30% aller Pflegeheimbewohner in Deutschland erhalten ein Antidepressivum, 40% der Bewohner bekommen dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum. Unter den 800.000 Pflegeheimbewohnern in Deutschland sind vor allem die 500.000 Demenzkranken davon betroffen. Das ergab eine Studie von Prof. Dr. Petra A. Thürmann, Pharmakologin an der Universität Witten/Herdecke und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Die Ergebnisse sind im jüngsten AOK-Pflege-Report veröffentlicht [1].
Nach den Daten des Pflege-Reports bestätigen die Pflegekräfte, dass nach wie vor viele Psychopharmaka in der Pflege verordnet werden. Offenbar halten aber 82% der Pflegekräfte diesen Verordnungsumfang für angemessen, sagt Dr. Antje Schwinger vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WidO). Schwinger hat rund 2.500 Pflegekräfte befragt.
Prof. Dr. Stefan Görres vom Institut für Public Health und Pflegeforschung an der Universität Bremen warnt allerdings, es würden zu leichtfertig Psychopharmaka verordnet. „Manche Ärzte verordnen zu schnell. Dabei gibt es andere Methoden nichtmedikamentöser Art, etwa mit der Unruhe der Patienten umzugehen, zum Beispiel durch tiergestützte Therapien oder Biografie-Arbeit.“
Neben den Folgen für die Gesundheit der Bewohner hat die häufige Gabe von Psychopharmaka zudem eine politische Seite. „Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der seit dem 1. Januar gilt, verschärft das Problem, weil mehr Menschen Leistungen aus der Pflegekasse beantragen werden und dadurch immer mehr der ohnedies knappen Pflegekräfte gebraucht werden“, sagt Görres.
Deutschland in der Spitzengruppe beim Psychopharmaka-Einsatz
Im internationalen Vergleich liege Deutschland beim Psychopharmaka-Verbrauch in Pflegeheimen in der Spitzengruppe, erklärt Thürmann in einer Pressemitteilung. Während 54% der spanischen, 48% der estnischen und 47% der deutschen demenzkranken Heimbewohner Neuroleptika erhalten, sind es nur 12% in Schweden, 27% in Frankreich und 30% in Finnland. „Es scheint also Spielraum und Alternativen zu geben“, folgert Thürmann.

Prof. Dr. Petra A. Thürmann
Besonders Demenzpatienten erhalten zu oft und dauerhaft Psychopharmaka. Eine Erhebung Thürmanns in deutschen Altenheimen bei 841 Bewohnern zeigt: Gut 30% der Bewohner erhielten ein Antidepressivum. Hier gibt es kaum Unterschiede zwischen Menschen mit oder ohne Demenz. Aber über 40% der Bewohner mit Demenz haben in ihrer Dauermedikation mindestens ein Neuroleptikum, dagegen nur knapp 20% der Heimbewohner ohne Demenz. Hinzu kommen weitere Neuroleptika und beruhigende Medikamente, die zusätzlich gegeben werden.
„Diese hohe Verordnungsprävalenz ist nicht verwunderlich“, so Thürmann. „Bei bis zu 90% der Menschen mit Demenz muss mit dem Auftreten von neuropsychiatrischen Veränderungen und bei etwa 40 bis 60% mit psychischen Verhaltensstörungen von ausgeprägter Unruhe bis hin zu verbaler und physischer Aggression gerechnet werden.“
Tatsächlich wären Alternativen notwendig, meint Thürmann. Denn die fraglichen Arzneimittel haben eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen wie Stürze, Schlaganfälle oder Thrombosen. Wenn 1.000 Patienten mit Verhaltensstörungen bei Demenz über 3 Monate mit Neuroleptika der 2. Generation behandelt werden, erführen zwar 91 bis 200 Patienten eine signifikante Besserung, aber man müsse mit 10 zusätzlichen Todesfällen rechnen und 18 zusätzlichen Schlaganfällen. Das ergab eine Untersuchung aus England.
Nur ganz wenige Wirkstoffe seien zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen, und dann auch nur für eine kurze Therapiedauer von 6 Wochen. Thürmann: „Der breite und dauerhafte Neuroleptika-Einsatz bei der Pflege von Heimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien.“
Pflegekräfte wirken auf Verordnungen durch Ärzte hin
Auf Seiten der Pflege indessen wird die massive Verordnung von Psychopharmaka an Heimbewohner nicht wirklich als Problem erkannt. Die Befragung von 2.500 Pflegekräften durch das WIdO zeigt, dass für über 70% der Pflegenden unruhiges, aggressives oder enthemmtes Verhalten ihrer Patienten zum Stationsalltag gehört.
84% der Pflegekräfte wirken denn auch auf Verordnungen durch den Arzt hin, 27% sogar regelmäßig. Mehr als die Hälfte der Bewohner erhielten regelmäßig Psychopharmaka, und bei 64% der Bewohner mit herausforderndem Verhalten werden die Arzneimittel länger als ein Jahr eingesetzt, gaben die Pflegenden an. „Trotz der auch im internationalen Vergleich hohen Verordnungsraten beurteilen die Pflegefachkräfte den Psychopharmaka-Einsatz in ihrem Pflegeheim als angemessen“, bedauert der Report. 82% der Pflegekräfte finden den Verordnungsumfang angemessen.
Antje Schwinger vom WidO bescheinigt den Pflegenden deshalb einen „begrenzt kritischen Blick auf den breiten Einsatz von Psychopharmaka“ und fordert, dass „das Problembewusstsein der Pflege an dieser Stelle noch weiter geschärft werden muss.“
Alternativen zu Psychopharmaka
Allerdings betrachten die beiden Studien aus Deutschland und England nicht die Motivation der Ärzte, die die Arzneimittel schließlich verschreiben. „Die rasche Verordnung von Psychopharmaka ist auch eine Form der Hilflosigkeit, mit der Diagnose Demenz umzugehen“, meint dazu Görres. Dabei gebe es Alternativen: Biografie-Arbeit, realitätsorientiertes Training (ROT), das mit Spiegeln, übergroßen Uhren oder Kalendern und Piktogrammen die Orientierung erleichtert, das „Dementia Care Mapping“, ein Beobachtungsverfahren bei Demenzpatienten, oder die tiergestützte Therapie. Auch eine freundliche und helle Milieugestaltung beruhigt, weil so die Intimsphäre der Heimbewohner gewahrt wird. Görres: „Wir haben hier Nachholbedarf in Forschung und Praxis.“
Neues Pflegegesetz verschärft Personalproblem in der Pflege
Abgesehen von den medizinischen und pflegerischen Aspekten des Problems verweist Görres auch auf die politischen Aspekte. Die Alternativen zur Verordnung von Psychopharmaka benötigen mehr Zeit und damit mehr Personal. Aber qualifizierte Pflegekräfte seien schwer zu bekommen, meint Görres. Nun verschärfe der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der seit dem 1. Januar 2017 gilt, das Personalproblem zusätzlich.
Die neue Regelung ersetzt die bisherigen 3 Pflegestufen durch 5 Pflegegrade, die sich nun vor allem an der Selbstständigkeit des Pflegepatienten orientieren und weniger an den körperlichen Einschränkungen. Dazu gehören auch kommunikative Fähigkeiten, der Umgang mit der eigenen Krankheit oder die Fähigkeit, das soziale Leben zu gestalten. Klar, dass auch demenziell Erkrankte damit vermehrt unter diesen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff fallen. Görres rechnet mit insgesamt ungefähr 500.000 zusätzlichen Anträgen auf Leistungen aus der Pflegeversicherung und damit auch mit mehr ambulanten und stationären Pflegepatienten.
Damit verdüstern sich die Aussichten auf mehr Augenmaß bei der Verordnung von Psychopharmaka an Pflegepatienten. Denn die Alternativen zur Ruhigstellung fordern mehr Personal. „Das wissen die Einrichtungen und haben oft darauf hingewiesen“, sagt Görres. „Man braucht ja nicht nur einfach Leute, sondern solche, die mit Demenzpatienten umgehen können. Aber das Problem wurde zu spät von der Politik wahrgenommen.“
REFERENZEN:
1. WIdO: „Pflege-Report 2017: Die Versorgung der Pflegebedürftigen“
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: AOK-Pflege-Report: Immer noch zu viele Psychopharmaka für Heimbewohner – und zu wenige Pflegekräfte - Medscape - 19. Apr 2017.
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