Die Digitalisierung der Medizin in Deutschland verläuft schleppend. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will nun Tempo machen. Doch was ist sinnvoll – und was nicht?

Hermann Gröhe
Um dies zu diskutieren lud das BMG zum ersten Netzpolitischen Dialog ein, der (passend zum Thema) auf Facebook und Twitter übertragen wurde [1]. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe diskutierte mit Experten aus dem Gesundheitswesen, Ärzten und dem Blogger und Internet-Strategieberater Sascha Lobo über die Zukunft der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Neue Entwicklungen: Zu langsamer Prozess

Sascha Lobo
Ob innovative Gesundheits-Apps oder Medizinprodukte wie Sensoren, die man sich zur Blutzuckermessung unter die Haut pflanzen kann: Lobo kritisierte das deutsche „Beharrungsvermögen“ und die Langsamkeit der Kräfte auf dem Gesundheitsmarkt, deren „Risiko-Aversion“ innovative Start-up-Unternehmen in der Medizintechnik-Branche ausbremsten.
Das sehen Gesundheitsminister Gröhe und die GKV-Spitzenverband-Vorstandsvorsitzende Doris Pfeiffer etwas anders. Sie betonten, dass technische Neuerungen im Gesundheitswesen, die von der Solidargemeinschaft finanziert werden, auch eine gründliche Prüfung von Sicherheit und Nutzen für den Patienten erfordern.
Gröhe wies auf das neu eröffnete Innovationsbüro hin, das am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt ist. Start-up-Unternehmen können es als Anlaufstelle nutzen, um sich auszutauschen und um zu beurteilen, wie die Chancen zur Umsetzung ihrer Idee sind.
Das Innovationsbüro soll Unternehmen unterstützen, die gute Ideen und Ansätze für neue Arzneimittel und Medizinprodukte haben. Als Ansprechpartner in einem sehr frühen Stadium der Produktentwicklung kann es helfen, z.B. bei Fragen zu den oft komplexen regulatorischen Anforderungen und notwendigen Verfahrensschritten.
Wie Google & Co. den Gesundheitsmarkt kapern könnten
Lobo sieht die Gefahr, dass große Unternehmen wie Google und Apple den Gesundheitsmarkt „kapern“, sie pumpten derzeit enorme Forschungsgelder hinein. Dem müsse man entgegenhalten. In den USA seien bereits Krankenhaus-Landschaften von Firmen wie Apple abhängig. Google investiere viel in Technologien im Bereich Diabetes, das Unternehmen könne irgendwann auch den Markt für Humaninsulin „aufsaugen“ – andere damit zu Zulieferern degradieren, befürchtet Lobo.
Auch in anderen Bereichen gibt es innovative technologische Ansätze: Als Beispiele nannte er z.B. eine automatisierte Stimm-Auswertung, die dabei hilft, Depressionen und Suizidgefährdung zu erkennen oder digitalisierte natürliche Verhütungstools, die hohe Sicherheit versprechen. Lobo sieht bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen eine „Ungleichzeitigkeit“ – einige sind in den Entwicklungen und Ideen weit voraus, andere wiederum aber „noch ganz weit hinten“.
Geprüfte Gesundheits-Apps gewünscht
Die Arztsicht vertrat auf dem Podium die Berliner Hausärztin und Internistin Irmgard Landgraf. Wie sie sagte, wünschen sich viele Ärzte im unübersichtlichen Markt der Gesundheits-Apps autorisierte Apps, die getestet wurden und empfohlen werden: „Ich selbst habe keine Zeit, mich darüber auf dem Markt zu informieren“, betonte sie.
Gröhe verwies auf eine Studie am Peter L. Reichertz Institut für medizinische Informatik zu Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps. „Was von der Gemeinschaft getragen wird, muss sicher sein“, betonte er. Komme es etwa durch eine fehlerhafte App zur Fehldosierung bei einer Insulinpumpe könne dies dramatische Folgen haben, nannte er ein Beispiel.
Gute Erfahrungen mit digitaler Kommunikation zwischen Hausarztpraxis und Pflegeheim
Landgraf kommuniziert schon seit 15 Jahren von ihrer Hausarztpraxis aus digital und online mit einer Pflegeeinrichtung: Dort betreut sie alle Pflegebedürftigen ärztlich. Das Ziel sei von Anfang an gewesen, die Kommunikation zwischen Ärzten und Pflegepersonal zu optimieren, berichtete sie.
Bei diesem System haben alle Behandler und Pflegekräfte digital Zugriff auf die Patientenakten. Zudem sei das System mit Web-Kommunikationsmodulen ausgestattet, in denen Hausärzte, Fachärzte und Patienten online Nachrichten schicken können. „Die Dokumentation wird zur Kommunikation genutzt“, erläuterte Landgraf.
Ein Vorteil: Durch die digitale Vernetzung kann sich die Internistin jederzeit über den aktuellen Zustand ihrer Patienten im Pflegeheim informieren. „Morgens lese ich, was in der Nacht war, und abends, was am Tag war“, berichtete sie.
Insgesamt habe die digitale, systematisierte und zeitnahe Kommunikation eine enorme Arbeitserleichterung gebracht und Informationsdefizite verringert: Arzt und Pflegepersonal können sich online über den Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen austauschen und zeitnah reagieren. Dadurch kommunizierten Ärzte und Pflegekräfte auch mehr auf Augenhöhe.
Die Voraussetzung zur Einführung dieses Kommunikationssystems mit dem Pflegeheim sei ideal gewesen, da ihre Praxis alle Patienten dort behandle. Wenn ein Arzt nur wenige Patienten eines Heims behandle, lohnt sich ein solcher Aufwand sicherlich nicht, meinte Landgraf.
Inzwischen sind Studien geplant um zu klären, ob solche Tools auch in der ambulanten Pflege eingesetzt werden können. Vernetztes Zusammenarbeiten vor allem mit den Angehörigen sei nötig – immerhin übernehmen Angehörige in Deutschland rund 70% der Pflege.
Patienten informieren sich im Internet – nicht jeden Arzt freut es
Lobo wies auf den Trend hin, dass sich viele Patienten über das Internet informieren. Während manche Ärzte die Augen rollen, wenn der Patient mit detaillierten Informationen aus dem Internet in das Behandlungszimmer kommt, schätzen andere genau dies: Wenn Patienten beispielsweise ihre chronischen Krankheiten wie Diabetes selbst überwachen und mit entsprechendem technischem Equipment Daten sammeln, die sie dann mit dem Arzt besprechen. Die Hausärztin Landgraf erachtet solche Patienten als vorbildlich: „Sie sind gut informiert und übernehmen viel Selbstverantwortung für ihr eigenes Leben“, betonte sie.
„Die Kommunikation ist auf dem Weg, selbst zur Medizin zu werden“, sagte Lobo und bezog sich dabei auf das neueste Projekt von Mark Zuckerberg und seiner Frau Priscilla Chan: Es handelt sich um die Suchmaschine des kanadischen Start-up-Unternehmens Meta. Diese Suchmaschine durchforstet mithilfe Künstlicher Intelligenz wissenschaftliche Publikationen, verarbeitet sie und wertet sie aus – die Ergebnisse sollen dann künftig frei zugänglich sein. Die Idee dahinter: Ärzte und Wissenschaftler sollen schneller und einfacher auf Erkenntnisse aus Millionen Veröffentlichungen zugreifen und diese für ihre Arbeit nutzen können.
Videosprechstunde: Wackliges Bild – schlechter Ton?
Auch die Videosprechstunde wurde als neue digitale Möglichkeit diskutiert. Dr. Johannes Wimmer betonte allerdings, dass Videosprechstunden natürlich nicht den Erstkontakt zum Patienten ersetzen können. Wimmer ist Leiter der digitalen Patientenkommunikation im Competenzzentrum Versorgungsforschung in der Dermatologie (CV Derm) der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Wenn ein Patient aber zum Beispiel auf ein neues Medikament eingestellt worden sei, dann reiche es auch 1 oder 2 Wochen später, in einem Video-Call abzuklären, wie es ihm gehe.
Tatsächlich haben viele Praxen aber gar nicht die technische Ausstattung. „Wir reden hier zum Teil von der Mondlandung, es steht aber noch nicht einmal das Fahrrad vor der Tür“, so Wimmer.
Wimmer hält auch den Einsatz von digitalen Mitteln für die Aufklärung von Patienten für wesentlich. Er selbst betreibt z.B. die Internet-Seite „doktor-johannes.de“, auf der er für Patienten kurze Videos anbietet, die medizinische Fragen klären.
Die GKV-Spitzenverbands-Vorstandsvorsitzende Pfeiffer sieht durchaus die Chancen, mit telemedizinischen und digitalen Mitteln die Versorgung für Patienten zu verbessern. Sie warnte aber auch davor, zu große Heilsversprechen in den neuen digitalen Möglichkeiten zu sehen. So könne es in Einzelfällen vielleicht aufwändiger sein und länger dauern, bei der Videosprechstunde Bild und Ton richtig einzustellen, als den Patienten persönlich in die Praxis einzubestellen.
Am Empfang einer Praxis werde zudem der Ablauf einer Sprechstunde getaktet – alle 5 Minuten betreten die Patienten das Behandlungszimmer. Schwieriger sei dies bei einer Videosprechstunde zu organisieren. Zudem seien Videosprechstunden für diejenigen Patienten geeignet, denen in der Nähe keine Fachärzte zur Verfügung stünden – für jemanden, der in Berlin Mitte wohne, sei dies jedoch wenig sinnvoll.
Das Bundesgesundheitsministerium will den netzpolitischen Dialog fortsetzen – mit einer Diskussion über Ethik und Digitalisierung im Gesundheitswesen am 17. Mai 2017.
REFERENZEN:
1. Bundesministerium für Gesundheit: Netzpolitischer Dialog, Videostream auf Facebook, 22. März 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Der Gesundheitsminister diskutiert mit Sascha Lobo und Ärzten auf Facebook die Zukunft der digitalen Medizin - Medscape - 5. Apr 2017.
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