Bertelsmann-Studie: Hausärzte sehen in Überversorgung großes Problem – Negativlisten für „Choosing Wisely“ sollen helfen

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

23. März 2017

Die US-Initiative „Choosing Wisely“ („Klug entscheiden“) setzt sich bekanntlich weltweit gegen medizinische Überversorgung ein. Bislang haben bereits 70 Fachgesellschaften 450 Empfehlungen zu fragwürdigen diagnostischen oder therapeutischen Methoden zusammengestellt. In einer aktuellen Studie untersuchte die Bertelsmann Stiftung, warum trotz medizinischer Leitlinien Negativlisten erforderlich sind [1].

Prof. Dr. Gerd Hasenfuß

Quelle: DGIM

Medscape sprach mit Prof. Dr. Gerd Hasenfuß über mögliche Erklärungen. Er ist Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie, Universitätsmedizin Göttingen, und 1. stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Seine Fachgesellschaft hat im Rahmen von „Choosing Wisely“ Top-5-Negativlisten bzw. -Positivlisten für Deutschland erarbeitet.

„Viele Leitlinien haben einen Umfang von mehreren 100 Seiten“, gibt Hasenfuß zu bedenken. „Und in jeder Fachdisziplin muss man 10 bis 20 dieser Dokumente beachten.“ Das sei in der Praxis nicht immer möglich. Außerdem würden Negativempfehlungen in den Leitlinien oft nicht oder nicht in der notwendigen Häufigkeit berücksichtigt. Beispielsweise geben Leitlinien vor, wann Protonenpumpenhemmer eingesetzt werden, aber nicht, wann Ärzte die Therapie beenden sollten.

Überversorgung: Ein Problem, viele Gründe

Befragungen der Bertelsmann Stiftung festigen dieses Bild. Für 19,3% aller interviewten Ärzte stellt die Überversorgung ein großes Problem dar, das sie mit der hohen Priorität 5 bewerten. 28,7% geben der Thematik die Priorität 4, weitere 36,6% die 3 und 13,6% die 2. Nur 1,7% sehen keine Notwendigkeit, hier zu intervenieren.

Unterversorgung bewerten 4,3% der befragten Ärzte mit der Priorität 5, 9,3% mit der 4, 26,4% mit der 3 und 44,5% mit der 2. Für völlig unbedeutend halten 15,4% diesen Aspekt.

Hasenfuß verweist in diesem Zusammenhang auf repräsentative Interviews seiner Fachgesellschaft.

  • 79% der Ärzte sagten, sie würden aus Angst vor Behandlungsfehlern eher zu viel als zu wenig unternehmen.

  • 63% gaben an, auf Druck von Patienten mehr als erforderlich zu diagnostizieren oder zu therapieren.

  • 48% nennen zusätzliche Erlöse,

  • 43% handeln aus Unkenntnis der Leitlinie und

  • 42% sprechen von fehlender Zeit.

 
Viele Leitlinien haben einen Umfang von mehreren 100 Seiten. Prof. Dr. Gerd Hasenfuß
 

Empfehlungen für Deutschland

„Klug entscheiden“ schließt entsprechende Lücken mit praxisrelevanten Empfehlungen. Fachgesellschaften sind bei der Bearbeitung möglicher Themen relativ frei. Dies erkläre, warum von Land zu Land unterschiedliche, aber keineswegs widersprüchliche Zusammenstellungen entstünden, so der Experte.

In Deutschland hat die DGIM ihre 12 internistischen Schwerpunktgruppen beauftragt, Top-5-Negativlisten zu erstellen. Positivempfehlungen kamen mit hinzu. Über eine Konsensus-Kommission wurden Prioritäten erstellt.

Hasenfuß nennt mehrere typische Beispiele:

  • Verengte Herzkranzgefäße sollten ohne den Nachweis, dass sie eine Durchblutungsstörung auslösen, nicht aufgeweitet werden.

  • Es wird davon abgeraten, unkomplizierte Harnwegsinfekte antibiotisch zu behandeln.

  • Ohne dringenden Verdacht auf Lungenembolie ist auch keine Computertomographie erforderlich. Denn sonst besteht die Gefahr, therapeutisch nicht relevante Zusatzbefunde wie kleine Embolien aufzudecken.

„Trotz dieser unterschiedlichen Beispiele ist es nicht Sinn der Sache, alle Indikationen in der Breite abzudecken“, lautet sein Resümee.

 
Es geht darum, Ärzte und Patienten miteinander ins Gespräch zu bringen, damit sie Entscheidungen wirklich gemeinsam treffen. Prof. Dr. Wendy Levison
 

Arzt und Patient im Dialog

Prof. Dr. Wendy
Levison, sie hat die Initiative in den USA mitgegründet, sieht für Deutschland mehrere Herausforderungen: „Es geht um einen Kulturwandel, um die Erkenntnis, dass mehr nicht immer besser ist.“ Für Levison ist „Choosing Wisely“ kein Forschungsprojekt, sondern eine Bottom-Up-Initiative. „Es geht darum, Ärzte und Patienten miteinander ins Gespräch zu bringen, damit sie Entscheidungen wirklich gemeinsam treffen“, wird die Initiatorin in der Bertelsmann-Studie zitiert.

In den USA haben Verbraucherschutzorganisationen bereits kleine Kärtchen für den Praxisbesuch entworfen. Patienten sollten ihre Ärzte Fragen: „Brauche ich diesen Test oder dieses Verfahren wirklich? Welche Risiken oder Nebenwirkungen sind möglich? Gibt es Möglichkeiten, die einfacher und sicherer sind? Was passiert, wenn ich nichts unternehme? Und zuletzt: Mit welchen Kosten ist zu rechnen?

„Explizite Empfehlungen zur Kommunikation gibt es bei uns zwar nicht. Aber die Choosing Wisely-Kampagne ist definitiv für die Arzt-Patienten-Interaktion gedacht“, berichtet Hasenfuß. Manche Themen seien Laien gegenüber schwerer vermittelbar, etwa aus dem Bereich Intensivmedizin. Andere Inhalte ließen sich besser transportieren. Als Beispiel nennt der Experte, dass bei normalen Infekten viralen Ursprungs keine Antibiotika verordnet werden sollten – obwohl es sich einige Patienten vielleicht wünschen.



REFERENZEN:

1. Bertelsmann Stiftung: Spotlight Gesundheit: Nr. 2, 2017  

Kommentar

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