Washington, D.C. – Fast die Hälfte der Patienten, die im Entwicklungsprogramm SPIRE den monoklonalen humanisierten Antikörper Bococizumab (Pfizer) zur zusätzlichen LDL-Cholesterinsenkung erhalten haben, entwickelten Antikörper, die die Wirksamkeit des Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9)-Hemmers offensichtlich stark eingeschränkt haben. Zwar konnte Bococizumab die kardiovaskulären Ereignisraten bei Patienten mit einem initialen LDL-C-Wert von über 100 mg/dl senken, bei Patienten mit einem LDL-C-Wert, der ausgangs bereits unter 100 mg/dl lag, war ein solcher Schutz aber nicht nachweisbar.

Prof. Dr. Paul M. Ridker
Die endgültigen Ergebnisse der SPIRE-Studien, zu denen auch die kardiovaskulären Endpunktstudien SPIRE-1 und -2 gehörten, präsentierte Prof. Dr. Paul M. Ridker, Mitvorsitzender Programmleiter von SPIRE und Direktor der Abteilung CV Disease Prevention am Brigham and Women's Hospital in Boston, auf den American College of Cardiology (ACC) 2017 Scientific Sessions in Washington, D.C. [1]. Gleichzeitig wurden die Studien im New England Journal of Medicine veröffentlicht [2,3].
Der Hersteller Pfizer hatte schon im November 2016 verkündet, die Entwicklung des dritten und viel versprechenden PCSK9-Hemmers Bococizumab aufgrund von Erkenntnissen zur Antikörperbildung und einer unerwarteten Minderung der erreichten LDL-Cholesterinsenkung zu beenden, und daher auch die kardiovaskulären Endpunktstudien vorzeitig gestoppt.
„Dieser Effekt ist Bococizumab-spezifisch”, berichtete Ridker. „er wurde weder unter Evolocumab noch Alirocumab beobachtet.” Die Immunogenität erkläre auch die erhöhte Rate von Reaktionen an der Einstichstelle unter Bococizumab-Gabe, fügte er an.
Die beiden bereits auf dem Markt befindlichen gänzlich humanen Antikörper Evolocumab (Repatha®, Amgen) und Alirocumab (Praluent®, Sanofi, Regeneron) können eine zusätzliche Senkung des LDL-Cholesterins um etwa 60% erreichen. In einer Dosierung von 150 mg subkutan alle 2 Wochen hatte der humanisierte Antikörper Bococizumab in bisherigen Dosisfindungs-Studien bei Patienten, die bereits mit Statinen behandelt wurden, zu einer zusätzlichen Senkung des LDL-Spiegels um rund 55 mg/dl geführt.
Da es sich bei Bococizumab um einen humanisierten Antikörper mit 3% murinen Sequenzen (von der Maus) handle, sei eine Antikörperbildung wahrscheinlicher als bei einem gänzlich humanen monoklonalen Antikörper, erklärte Ridker. „Auch wenn man die allgemeine Hypothese unterstützt, dass PCSK9-Hemmer kardiovaskuläre Ereignisraten senken können, scheint es wichtig, in dieser Medikamentenklasse den Unterschied zwischen gänzlich humanen und humanisierten monoklonalen Antikörpern zu bedenken“, sagte Ridker bei der Präsentation der SPIRE-Studien auf dem ACC-Kongress.
Keine Immunreaktion auf Alirocumab und Evolocumab
Unter Alirocumab scheint die Bildung von Antikörpern tatsächlich keine große Rolle zu spielen, wie eine aktuelle Analyse ergibt, über die ebenfalls in der aktuellen Ausgabe des New England Journal of Medicine berichtet wird [3]. Zudem habe eine eventuelle Immunreaktion offensichtlich keinen negativen Einfluss auf die LDL-Senkung, schreiben Dr. Eli Roth von der Sterling Research Group in Cincinnati, Ohio, USA, und Kollegen in einer Korrespondenz.
„Wir haben herausgefunden, dass [unter Alirocumab] die deutlichen LDL-Senkungen ungeachtet des Antikörper-Status bestehen blieben“, schreiben sie. Ohnehin hätten, wie ihre Analyse von Daten aus 10 Studien mit 4.747 Patienten ergaben, nur 5% der Behandelten Antikörper gegen Alirocumab entwickelt. Neutralisierende Antikörper wurden bei nur 1,4% der Patienten gefunden. Auch unter Evolocumab sei bislang keine Antikörperbildung in klinisch signifikanten Mengen festgestellt worden, schreiben Ridker und Kollegen, und die LDL-Cholesterinsenkung bleibe unter beiden PCSK9-Hemmern auch langfristig stabil.
Wie das Immunsystem auf Bococizumab reagiert und ob sich eine Antikörperbildung auf die LDL-Senkung auswirkt, hat die Studiengruppe im SPIRE-Programm (Studies of PCSK9 Inhibition and the Reduction of Vascular Events in 6 parallelen Multicenter-Studien – SPIRE-HR, SPIRE-LDL, SPIRE-FH, SPIRE-LL, SPIRE-SI und SPIRE-AI) untersucht. Zu dem Programm gehörten außerdem die Outcome-Studien SPIRE-1 und -2, die untersucht haben, inwieweit der neue PCSK9-Hemmer kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindern kann.
Die Hälfte der Patienten entwickelt schnell Antikörper
In den Lipidsenkungsstudien mit 4.449 Hochrisiko-Patienten (Durchschnittsalter 61 Jahre, 42% Frauen, LDL-C im Schnitt 122 mg/dl) erreichten die Patienten, die alle zusätzlich mit einem Statin behandelt wurden, nach 12 Wochen im Schnitt unter Bococizumab (150 mg subkutan alle 2 Wochen) eine zusätzliche LDL-Minderung von 52%.
Jedoch bildete das Immunsystem bei 48% der Teilnehmer Antikörper gegen den PCSK9-Hemmer; bei 29% sogar neutralisierende Antikörper. Die LDL-Senkung war dadurch nach 12 Monaten auf durchschnittlich 43% zurückgegangen, berichten die Autoren. Je aggressiver das Immunsystem gegen den monoklonalen Antikörper vorging, desto geringer fiel die LDL-Reduktion unter der Therapie aus.
Bei den 16% der Patienten, bei denen sich die Zahl der Antikörper im obersten Drittel befand, betrug die zusätzliche LDL-Reduktion nur noch 30,7%; bei denjenigen mit einer Antikörperzahl im obersten Zehntel nur noch 12,3%. Zudem berichten die Forscher über große Unterschiede hinsichtlich der LDL-Senkung, auch bei Patienten, die keine Antikörper gebildet hatten.
SPIRE-2: Kardiovaskuläre Ereignisse um 21% reduziert
In der SPIRE-2-Studie mit Hochrisiko-Patienten mit höheren LDL-Werten (> 100 mg/dl), die im Mittel 12 Monate lang beobachtet wurden, konnte Bococizumab die kardiovaskuläre Ereignisrate um 21% senken, In SPIRE-1 dagegen zeigte das Medikament bei Patienten mit niedrigeren LDL-Ausgangswerten von über 70 mg/dl nach durchschnittlich 7 Monaten keine Auswirkung auf die Ereignisrate, berichtete Ridker auf dem ACC-Kongress.
„Diese Ergebnisse unterstützen die allgemeine Vorstellung, dass es vor allem die zusätzliche LDL-Senkung über die der Statin-Therapie hinaus ist, die die kardiovaskuläre Ereignisrate weiter senkt“, bemerkte Ridker. „Unsere Erkenntnisse ergänzen unser Wissen über PCSK9-Hemmer. Dass die Ereignisrate bei Patienten mit dem höchsten Risiko und den höchsten LDL-Werten statisch signifikant gesenkt werden konnte, ist trotz allem ermutigend“, fügte er an.
Bevor Pfizer die Studie im November 2016 beendete, waren in SPIRE-1 16.817 und in SPIRE-2 10.621 Patienten eingeschlossen worden. Der mittlere LDL-Wert zu Studienbeginn betrug in SPIRE-1 94 mg/dl und in SPIRE-2 134 mg/dl. Im Schnitt waren die Patienten 63 Jahre alt; 30% waren Frauen, 48% hatten Diabetes, 25% waren Raucher und 85% hatten kardiovaskuläre Erkrankungen. Alle Patienten erhielten eine Statin-Therapie (Atorvastatin ≥ 40 mg täglich; Rosuvastatin ≥ 20 mg oder Simvastatin ≥ 40 mg), es sei denn, diese Dosierung wurde nicht toleriert.
An der SPIRE-2-Studie nahmen auch Patienten teil, die Statin-intolerant waren. Die Autoren um Ridker vermuten, dass sowohl das höhere Risiko als auch die längere Therapiedauer in SPIRE-2 dazu beigetragen haben, dass es in dieser Studie unter Bococizumab zu einer Minderung der Ereignisrate kam.
Genau wie in den 6 Lipidsenkungsstudien stellten die Autoren auch in den Endpunkt-Studien SPIRE-1 und -2 eine große Variabilität hinsichtlich der Ausprägung der LDL-Senkung durch Bococizumab fest, was auch die klinische Ereignisrate beeinflusste, schreiben sie. „Wenn sich bei den anderen PCSK9-Hemmern ähnliche Unterschiede bemerkbar machen, sollten Ärzte die individuelle LDL-Cholesterin-Antwort beobachten, um herauszufinden, welche Patienten von diesen Medikamenten am meisten profitieren“, lautet dementsprechend ihr Rat für die Praxis.
REFERENZEN:
2. Ridker PM, et al: N Engl J Med (online) 17. März 2017
3. Ridker PM, et al: N Engl J Med (online) 17. März 2017
4. Roth EM, et al: N Engl J Med (online) 17. März 2017
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Diesen Artikel so zitieren: PCSK9-Hemmer scheitert in SPIRE-Studien: Antikörper werden Bococizumab zum Verhängnis - Medscape - 21. Mär 2017.
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