Mythos Pflegenotstand in Kliniken? Studie sieht keine steigende Pflegebelastung

Christian Beneker

Interessenkonflikte

17. März 2017

Köln – Die Ergebnisse, die Prof. Dr. Boris Augurzky vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) auf dem Kölner Gesundheitskongress des Westen präsentierte, hinterließen seinen Auftraggeber – die Techniker Krankenkasse (TK) – ratlos: Augurzky hat keine Evidenz dafür gefunden, dass die Belastung der Pflegenden im Krankenhaus seit 2002 signifikant zugenommen hätte [1;2]. „Fallzahl und Belegungstage weisen vielmehr auf eine im Vergleich zu 2002 unveränderte Belastung hin“, so Augurzky. Zudem habe auch die Versorgungsqualität nicht gelitten.

Die TK hatte die Studie „Die Zukunft der Pflege im Krankenhaus“ über den Zusammenhang von Versorgungsqualität und Anzahl der Pflegenden in Auftrag gegeben. Eigentlich wollte Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der TK, mit Augurzkys mit der Studie der Politik Zahlen an die Hand geben, damit sie handeln könne, wie er sagte. Immerhin wollen Bund und Länder bei Pflegenden im Krankenhaus Untergrenzen einführen. Aber nach der Präsentation fragte der TK-Vize: „Ist der Mangel an Pflegenden im Krankenhaus ein Mythos?“

 
Fallzahl und Belegungstage weisen vielmehr auf eine im Vergleich zu 2002 unveränderte Belastung hin. Prof. Dr. Boris Augurzky
 

Wir arbeiten unheimlich viel“

Zu den Zahlen: Im Jahr 1999 arbeiteten 335.000 Pflege-Vollkräfte in deutschen Krankenhäusern, 2006 waren es nur noch 299.000 und 2013 wieder 316.000 Vollkräfte. Augurzky wollte nun wissen: Wie hat sich die pflegerelevante Arbeitsmenge im Lauf der Jahre entwickelt? Ist eine Verschlechterung der medizinischen Qualität oder der Patientenzufriedenheit erkennbar? Und schließlich: Würden mehr Schwestern und Pfleger die Qualität spürbar erhöhen?

Tatsächlich lag Deutschland 2010 bei der Anzahl der Pflege-Vollzeitkräfte (VK) je 1.000 Belegungstage mit einem Wert von 2,4 international am Ende der Skala. Spitzenreiter sind Israel mit 6,6 VK pro 1.000 Belegungstage und Neuseeland mit einem Wert von 5,6. Eine ähnliche Situation findet sich bei der Anzahl der Pflege-VK je 1.000 Behandlungsfälle im Jahr 2010: Deutschland liegt mit 17,4 Pflege-VK pro 1.000 Fälle „deutlich unter dem internationalen Durchschnitt von 28,6“. Japan ist mit 47,9 an der Spitze, Ungarn mit 12,6 am Ende der Skala, Holland und Frankreich mit Werten von 30,0 und 28,9 leicht über dem internationalen Durchschnitt. Augurzkys Resümee: „Wir arbeiten in Deutschland unheimlich viel.“ Diese hohe Belastung der Pflegenden sei aber zwischen 2002 und 2014 relativ konstant geblieben.

Drückt die konstant hohe Arbeitsbelastung in der Pflege nun auf die Qualität? Zwar seien Geschäftsführer, Chefärzte und Pflegedirektoren zum Großteil davon überzeugt, dass die Pflege wegen Geld- und damit Personal-Mangel leide, vor allem bei der menschlichen Betreuung. Aber die Antworten der Pflegenden selbst zeigen ein differenziertes Bild: 1999 bezeichneten 80% der Pflegenden die Pflegequalität auf Station als sehr gut, 2010 waren es immerhin noch 65%.

Bei der Patientensicherheit stieg der Wert im selben Zeitraum von 69% auf 94%, wahrscheinlich auch wegen der besseren Medizintechnik auf den Stationen, mutmaßt Augurzky. Indessen fehle es immer öfter an der „psychosozialen Aufmerksamkeit“ für die Patienten, gaben die Pflegenden an. 1999 sahen noch knapp 54% diesen Mangel, 2010 waren es bereits 82%.

Pflegekräfte unzufriedener, Versorgungsqualität stabil

Die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden sank denn auch stetig. „Zwischen 1998 und 2010 sank der Anteil der Pflegenden, die zufrieden mit dem Arbeitsklima sind, von 83 Prozent auf 63 Prozent. Der Anteil der Pflegenden, die mit der Pflegepersonalausstattung zufrieden sind, sank im gleichen Zeitraum von 37 Prozent auf 18 Prozent“, heißt es in der Studie.

Aber: Trotz dieser Veränderungen sei die Versorgungsqualität nicht schlechter geworden, so Augurzky. Die Zahl, etwa der Dekubiti im Krankenhaus als Indikator für die Versorgungsqualität, sinkt. „Lag der Anteil an Patienten mit einem Dekubitus vom Grad 1 bis 4 in 2004 noch bei 1,54 Prozent, so sank dieser Wert um etwa 40 Prozent auf 0,90 Prozent in 2012“, ist in der Studie zu lesen. Auch liege die Patientenzufriedenheit konstant auf einem relativ hohen Wert.

Augurzky fand zudem kaum einen Zusammenhang zwischen Pflege-VK und Mortalitätsrate: Die Rate sinkt nur um 0,05%, wenn man die Pflege-VK pro Fall um 10% erhöht. „Keine relevante Größenordnung“, fand Augurzky. Ebenso wenig bestehe ein Zusammenhang zwischen Patientenzufriedenheit und der Anzahl Pflege-VK.

 
In Deutschland liegt der Bedarf an Pflegestellen bei zusätzlich 100.000. Dann lägen wir im Europäischen Durchschnitt. Ludger Risse
 

Er sei überrascht über die Zahlen, kommentierte Ballast. „Denn die Versicherten fühlen sich nach unseren Erkenntnisse im Krankenhaus schlechter versorgt und die Pflegenden sagen das auch.“ Offenbar komme man mit Zahlen, Daten und Fakten der Unzufriedenheit nicht auf die Spur.

Möglicherweise liege es an der verkürzten Liegezeit. „Die Patienten wünschen sich persönliche Pflege, sind aber nur drei Tage im Krankenhaus. Auch die Pflegenden sind deshalb unzufrieden.“

Ballasts Einwurf dürfte Wasser auf die Mühlen von Ludger Risse gewesen sein, Pflegedirektor des St. Christopherus-Krankenhauses in Werne. Augurzksy Gutachten vermittle „ein falsches Bild“, so Risse. „Die Belegungstage bilden den Bedarf an Pflege nicht ab. Ich kann diese Zahlen nicht als gegeben hinnehmen.“

 
Wir müssen den Pflegenden mehr Aufstiegschancen und einen angemessenen Platz in der Führung von Unternehmen geben. Dr. Rainer Norden
 

Man brauche Daten über die Pflegebedürftigkeit der Patienten. Dann werde klar: „In Deutschland liegt der Bedarf an Pflegestellen bei zusätzlich 100.000. Dann lägen wir im Europäischen Durchschnitt.“

Mehr Aufstiegschancen für Pflegende gefordert

Dass indessen der Fachkräftemangel absehbar ist, weiß auch Augurzky. Er fordert deshalb, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. „Außerdem müssen wir gute Prozesse auf den Stationen initiieren, damit wir Personal und Arbeit einsparen können.“

Dr. Rainer Norden, Vorstand der Bodelschwinghschen Stiftung in Bethel verwies auf den Umstand, dass die Zahl der Pflegenden in den zurückliegenden Jahren etwa konstant blieb, die Zahl der Ärzte aber sehr zunahm – nach Augurzkys Zahlen zwischen 1991 und 2014 um 58%. „Diese Entwicklung hat auch die Autonomie der Pflege eingeschränkt“, so Norden. „Wir müssen den Pflegenden mehr Aufstiegschancen und einen angemessenen Platz in der Führung von Unternehmen geben.“



REFERENZEN:

1. Gesundheitskongress des Westens, 7. bis 8. März 2017, Köln

2. Augurzki B, et al: RWI Materialien, Heft 104

 

Kommentar

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