Alemtuzumab ist hoch wirksam in der Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS). Die therapeutische Wirkung ist weitgehend mit der von Natalizumab vergleichbar und sie ist besser als die von Fingolimod und Interferon beta. Das ist das Ergebnis einer internationalen retrospektiven Beobachtungsstudie, die Dr. Tomas Kalincik, Medizinische Abteilung der Universität von Melbourne (Australien), als Erstautor online in Lancet Neurology publiziert hat [1].
„Zusammen mit Natalizumab repräsentiert Alemtuzumab eine praktikable Option für Patienten, die eine hoch wirksame Immuntherapie der Multiplen Sklerose benötigen“, so die Schlussfolgerung der Studiengruppe. Die Entscheidung, ob Alemtuzumab oder Natalizumab gewählt werde, solle sich primär am Sicherheitsprofil der Substanzen orientieren.
Im begleitenden Editorial weisen Prof. Dr. Maria Pia Sormani und Dr. Alice Laroni von der Biostatistischen Abteilung der Universität von Genua, Italien, darauf hin, dass eine Schwäche der Studie sei, dass keine MRT-Daten erhoben wurden [2]. Die MRT-Aktivität sei für die Therapieauswahl von hoher Bedeutung. Eine weitere Limitierung seien die Abbruchraten der verschiedenen Therapeutika: Aufgrund des besonderen Therapieschemas von Alemtuzumab sei die Therapiepersistenz nicht mit den anderen Substanzen in der Studie vergleichbar. Alemtuzumab wird als intravenöse Infusion in 2 Behandlungsphasen mit einem Abstand von einem Jahr verabreicht. Behandlungsphase 1 erfolgt im 1. Behandlungsjahr an 5 aufeinanderfolgenden Tagen, Behandlungsphase 2 im 2. Behandlungsjahr an 3 aufeinanderfolgenden Tagen.
Nach Ansicht der italienischen Expertinnen würden so genannte pragmatische Studien eine Evidenz besserer Qualität liefern als Beobachtungsstudien. Das wären randomisierte Studien, die sich an der klinischen Realität orientieren, etwa mit weniger strengen Einschluss- und Ausschlusskriterien als in klinischen Studien üblich und einer Betreuung, wie sie in der täglichen klinischen Praxis Routine ist. Sie fordern, auch bei MS vermehrt pragmatische Studien durchzuführen, die objektive klinische Entscheidungen erleichtern.
„Die vorliegende Studie von Kalincik und Kollegen unterstreicht eindrücklich die Ergebnisse aus den Zulassungsstudien von Alemtuzumab. Sie unterstreicht auch, dass bei den aktuell verfügbaren Therapien für hochaktive Krankheitsverläufe der schubförmigen multiplen Sklerose RRMS Alemtuzumab und Natalizumab vergleichbar wirksam sind. Fingolimod weist hingegen eine etwas geringere Wirksamkeit auf“, so Prof. Dr. Dr. Sven Meuth, Direktor des Departments für Neurologie und des Instituts für Translationale Neurologie, Universitätsklinikum Münster, gegenüber Medscape.
„Sicherlich fehlen der Studie MR-tomografische Daten, die einerseits damit nicht berücksichtigte Confounder beim Matching der Patienten, andererseits aber auch unabhängige Outcome-Parameter sein können. Die Aussage im Hinblick auf die Effektivität von Alemtuzumab per se wird hierdurch wahrscheinlich jedoch nicht relevant eingeschränkt.“
Meuth ist wie die Autoren und Kommentatoren der Ansicht, dass die Studienpower hinsichtlich der abschließenden Bewertung der Daten zur Behinderungsprogression wohl nicht ausreichend sei. „Diese Studie unterstreicht im Wesentlichen die im klinischen Alltag bereits angenommenen Potenzen der Medikamente, für uns wird diese Studie nicht zu größeren Veränderungen der Therapieregime führen“, erläutert der Meuth.
Zu der im Editorial geäußerten Forderung nach mehr „pragmatischen“ Studien ergänzt er, dass es wegen der zahlreichen und weiter wachsenden Zahl verfügbarer Therapeutika leider zunehmend unrealistisch erscheine, solche Studien durchzuführen. Mit der Zulassung von Daclizumab 2016 und der zu erwartenden Zulassung von Ocrelizumab 2017 stünden ja weitere (potenzielle) Therapieoptionen zu Verfügung.
„Aus meiner Sicht bildet diese Studie leider aus einem anderen Grund nur einen Teil der Realität ab: Allein aus historischen Gründen ist verständlich, dass hier nur Patienten mit einem ausreichend langen Follow-Up eingeschlossen werden können, die vorher im Wesentlichen mit parenteral applizierten Arzneimitteln behandelt wurden. Teriflunomid, Dimethylfumarat, Daclizumab und andere waren schließlich lange noch nicht zu gelassen. Im klinischen Umfeld heute werden aber zunehmend Umstellungen zwischen verschiedenen hochaktiven Therapien vorgenommen und selbst unterschiedliche Vortherapien mit Medikamenten für ‚milde bis moderate Krankheitsverläufe‘ könnten relevante Unterschiede zeigen.“
Dies könne neben der Effektivität insbesondere auch die Sicherheit betreffen. So habe eine Arbeit von Alping und Kollegen in Annals of Neurology gezeigt, dass Therapieabbrüche bei Patienten mit Rituximab oder Fingolimod nach Natalizumab auch zu einem wesentlichen Anteil dem Sicherheits- und Nebenwirkungsprofil geschuldet seien. Willis und Kollegen hätten in einer aktuellen Arbeit in Neurology gezeigt, dass eine Vortherapie mit Fingolimod möglicherweise die Effektivität einer Therapie mit Alemtuzumab verringern könne.
Alemtuzumab im Vergleich
Eine hoch wirksame Immuntherapie mit Alemtuzumab oder Natalizumab ist als Initialtherapie bei hochaktiver MS, als Eskalationsbehandlung bei unzureichendem Ansprechen auf eine orale Behandlung oder als Wechsel von Natalizumab auf Alemtuzumab oder Fingolimod bei hohem Risiko einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie in der klinischen Praxis üblich.
Alemtuzumab ist ein humanisierter, gegen CD52 gerichteter Antikörper, der sich in klinischen Studien im Vergleich zu Interferon beta als überlegen in der Wirkung auf die Schubrate und das Fortschreiten der Behinderung erwies. Bislang gibt es jedoch keine Daten zum Vergleich der Wirksamkeit von Alemtuzumab mit anderen hochwirksamen Immuntherapien.
Die Studiengruppe verglich daher in einer retrospektiven Beobachtungsstudie die Schubraten, die Progression der Behinderung und die Verbesserung in der Behinderung von Patienten, die mit Alemtuzumab und anderen Immuntherapien behandelt wurden. Zunächst sollten die Ergebnisse der zulassungsrelevanten Studien von Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon beta bestätigt werden. Weiterhin sollte die Wirksamkeit von Alemtuzumab mit der von Natalizumab oder Fingolimod über 5 Jahre Behandlung verglichen werden.
In die Analyse wurden die Daten von MS-Patienten eingeschlossen, die wie folgt behandelt wurden:
Alemtuzumab n = 189 (nach 1999)
Interferon beta n = 2.155 (nach 1994)
Natalizumab n = 1.160 (nach 2006)
Fingolimod n = 828 (nach 2010)
Die Unterschiede in den demographischen Parametern in den 4 Gruppen wurden durch ein Propensity-Score-Matching adjustiert.
Die annualisierte Schubrate der Patienten unter Alemtuzumab war signifikant niedriger als unter Interferon beta (0,19 vs 0,53; p < 0,0001) und als unter Fingolimod (0,15 vs 0,34; p < 0,0001). Sormani und Laroni wundern sich allerdings, dass die Wirksamkeit von Alemtuzumab gegenüber Interferon beta besser war als in den Phase-3-Studien. Normalerweise wäre die Wirkung aufgrund des „Verdünnungseffekts“ in der Real-Life-Situation eher geringer, weil die Patienten hier weniger sorgfältig ausgewählt werden als in klinischen Studien. Auch im Vergleich zu Fingolimod sei Alemtuzumab besser gewesen, als in einer Netzwerk-Metaanalyse, die die Substanzen – anstelle eines Head-to-Head-Vergleichs – indirekt miteinander verglichen hat.
Die Wirkung auf die Schubrate von Alemtuzumab und Natalizumab war ähnlich (0,20 vs 0,19; p = 0,78). Auf die Behinderungsprogression wirkten alle Substanzen ähnlich. Die Editorialisten weisen jedoch darauf hin, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind, weil die Studie für eine solche Erhebung nicht ausreichend gepowert war. Die Behinderung wurde durch Alemtuzumab signifikant stärker gebessert als durch Interferon beta und Fingolimod. Und Natalizumab wirkte hier signifikant besser als Alemtuzumab, vor allem in den ersten Behandlungsjahren.
Als größten Nachteil der Studie bezeichnen die Autoren, dass Sicherheitsdaten und radiologische Befunde nicht systematisch und vergleichend erfasst wurden. Gerade die MRT sei ein wichtiges Verfahren, um die subklinische Krankheitsaktivität zu messen, welche es das therapeutische Vorgehen beeinflussen könne.
REFERENZEN:
1. Kalincik T, et al: Lancet Neurology (online) 10. Februar 2017
2. Sormani MP, et al: Lancet Neurology (online) 10. Februar 2017
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Diesen Artikel so zitieren: Schubförmige Multiple Sklerose: Alemtuzumab wirkt ähnlich gut wie Natalizumab – und besser als Fingolimod sowie Interferon - Medscape - 9. Mär 2017.
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