Schubförmige Multiple Sklerose: Alemtuzumab wirkt ähnlich gut wie Natalizumab – und besser als Fingolimod sowie Interferon

Dr. Susanne Heinzl

Interessenkonflikte

9. März 2017

Alemtuzumab  ist hoch wirksam in der Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS).  Die therapeutische Wirkung ist weitgehend mit der von Natalizumab vergleichbar  und sie ist besser als die von Fingolimod und Interferon beta. Das ist das  Ergebnis einer internationalen retrospektiven Beobachtungsstudie, die Dr. Tomas Kalincik, Medizinische  Abteilung der Universität von Melbourne (Australien), als Erstautor online in Lancet Neurology publiziert hat [1].

„Zusammen mit Natalizumab  repräsentiert Alemtuzumab eine praktikable Option für Patienten, die eine hoch  wirksame Immuntherapie der Multiplen Sklerose benötigen“, so die  Schlussfolgerung der Studiengruppe. Die Entscheidung, ob Alemtuzumab oder  Natalizumab gewählt werde, solle sich primär am Sicherheitsprofil der  Substanzen orientieren.

Im  begleitenden Editorial weisen Prof. Dr. Maria Pia Sormani und Dr. Alice Laroni von der Biostatistischen Abteilung der Universität von  Genua, Italien, darauf hin, dass eine Schwäche der Studie sei, dass keine  MRT-Daten erhoben wurden [2]. Die MRT-Aktivität sei für die Therapieauswahl von  hoher Bedeutung. Eine weitere Limitierung seien die Abbruchraten der verschiedenen  Therapeutika: Aufgrund des besonderen Therapieschemas von Alemtuzumab sei die  Therapiepersistenz nicht mit den anderen Substanzen in der Studie vergleichbar.  Alemtuzumab wird als intravenöse Infusion in 2 Behandlungsphasen mit einem  Abstand von einem Jahr verabreicht. Behandlungsphase 1 erfolgt im 1. Behandlungsjahr  an 5 aufeinanderfolgenden Tagen, Behandlungsphase 2 im 2. Behandlungsjahr an 3  aufeinanderfolgenden Tagen.

Nach Ansicht  der italienischen Expertinnen würden so genannte pragmatische Studien eine Evidenz besserer Qualität liefern als Beobachtungsstudien. Das wären randomisierte  Studien, die sich an der klinischen Realität orientieren, etwa mit weniger  strengen Einschluss- und Ausschlusskriterien als in klinischen Studien üblich und  einer Betreuung, wie sie in der täglichen klinischen Praxis Routine ist. Sie  fordern, auch bei MS vermehrt pragmatische Studien durchzuführen, die objektive  klinische Entscheidungen erleichtern.

„Die vorliegende  Studie von Kalincik und Kollegen unterstreicht eindrücklich die Ergebnisse aus  den Zulassungsstudien von Alemtuzumab. Sie unterstreicht auch, dass bei den  aktuell verfügbaren Therapien für hochaktive Krankheitsverläufe der  schubförmigen multiplen Sklerose RRMS Alemtuzumab und Natalizumab vergleichbar  wirksam sind. Fingolimod weist hingegen eine etwas geringere Wirksamkeit auf“,  so Prof. Dr. Dr. Sven Meuth, Direktor des Departments für Neurologie und des Instituts für Translationale  Neurologie, Universitätsklinikum Münster, gegenüber Medscape.

„Sicherlich  fehlen der Studie MR-tomografische Daten, die einerseits damit nicht  berücksichtigte Confounder beim Matching der Patienten, andererseits aber auch  unabhängige Outcome-Parameter sein können. Die Aussage im Hinblick auf die  Effektivität von Alemtuzumab per se wird hierdurch wahrscheinlich jedoch nicht  relevant eingeschränkt.“

Meuth ist  wie die Autoren und Kommentatoren der Ansicht, dass die Studienpower hinsichtlich  der abschließenden Bewertung der Daten zur Behinderungsprogression wohl nicht  ausreichend sei. „Diese Studie unterstreicht im Wesentlichen die im klinischen  Alltag bereits angenommenen Potenzen der Medikamente, für uns wird diese Studie nicht zu größeren Veränderungen  der Therapieregime führen“, erläutert der Meuth.

Zu der im  Editorial geäußerten Forderung nach mehr „pragmatischen“ Studien ergänzt er,  dass es wegen der zahlreichen und weiter wachsenden Zahl verfügbarer  Therapeutika leider zunehmend unrealistisch erscheine, solche Studien  durchzuführen. Mit der Zulassung von Daclizumab 2016 und der zu erwartenden Zulassung  von Ocrelizumab 2017 stünden ja weitere (potenzielle) Therapieoptionen zu  Verfügung.

„Aus meiner  Sicht bildet diese Studie leider aus einem anderen Grund nur einen Teil der  Realität ab: Allein aus historischen Gründen ist verständlich, dass hier nur  Patienten mit einem ausreichend langen Follow-Up eingeschlossen werden können,  die vorher im Wesentlichen mit parenteral applizierten Arzneimitteln behandelt  wurden. Teriflunomid, Dimethylfumarat, Daclizumab und andere waren schließlich  lange noch nicht zu gelassen. Im klinischen Umfeld heute werden aber zunehmend  Umstellungen zwischen verschiedenen hochaktiven Therapien vorgenommen und selbst  unterschiedliche Vortherapien mit Medikamenten für ‚milde bis moderate  Krankheitsverläufe‘ könnten relevante Unterschiede zeigen.“

 
Zusammen mit Natalizumab repräsentiert Alemtuzumab eine praktikable Option für Patienten, die eine hoch wirksame Immuntherapie benötigen. Dr. Tomas Kalincik
 

Dies könne  neben der Effektivität insbesondere auch die Sicherheit betreffen. So habe eine  Arbeit von Alping  und Kollegen in Annals of Neurology gezeigt, dass Therapieabbrüche bei Patienten mit Rituximab oder Fingolimod nach  Natalizumab auch zu einem wesentlichen Anteil dem Sicherheits- und  Nebenwirkungsprofil geschuldet seien. Willis und  Kollegen hätten in einer aktuellen Arbeit in Neurology gezeigt, dass eine Vortherapie mit Fingolimod  möglicherweise die Effektivität einer Therapie mit Alemtuzumab verringern könne.

Alemtuzumab im Vergleich

Eine hoch  wirksame Immuntherapie mit Alemtuzumab oder Natalizumab ist als Initialtherapie  bei hochaktiver MS, als Eskalationsbehandlung bei unzureichendem Ansprechen auf  eine orale Behandlung oder als Wechsel von Natalizumab auf Alemtuzumab oder  Fingolimod bei hohem Risiko einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie  in der klinischen Praxis üblich.

Alemtuzumab  ist ein humanisierter, gegen CD52 gerichteter Antikörper, der sich in  klinischen Studien im Vergleich zu Interferon beta als überlegen in der Wirkung  auf die Schubrate und das Fortschreiten der Behinderung erwies. Bislang gibt es  jedoch keine Daten zum Vergleich der Wirksamkeit von Alemtuzumab mit anderen  hochwirksamen Immuntherapien.

Die  Studiengruppe verglich daher in einer retrospektiven Beobachtungsstudie die  Schubraten, die Progression der Behinderung und die Verbesserung in der  Behinderung von Patienten, die mit Alemtuzumab und anderen Immuntherapien  behandelt wurden. Zunächst sollten die Ergebnisse der zulassungsrelevanten  Studien von Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon beta bestätigt werden.  Weiterhin sollte die Wirksamkeit von Alemtuzumab mit der von Natalizumab oder  Fingolimod über 5 Jahre Behandlung verglichen werden.

In die  Analyse wurden die Daten von MS-Patienten eingeschlossen, die wie folgt  behandelt wurden:

  • Alemtuzumab n = 189 (nach 1999)

  • Interferon beta n = 2.155 (nach 1994)

  • Natalizumab n = 1.160 (nach 2006)

  • Fingolimod n = 828 (nach 2010)

Die Unterschiede  in den demographischen Parametern in den 4 Gruppen wurden durch ein  Propensity-Score-Matching adjustiert.

 
Für uns wird diese Studie nicht zu größeren Veränderungen der Therapieregime führen. Prof. Dr. Dr. Sven Meuth
 

Die  annualisierte Schubrate der Patienten unter Alemtuzumab war signifikant  niedriger als unter Interferon beta (0,19 vs 0,53; p < 0,0001) und als unter  Fingolimod (0,15 vs 0,34; p < 0,0001). Sormani und Laroni wundern sich  allerdings, dass die Wirksamkeit von Alemtuzumab gegenüber Interferon beta besser  war als in den Phase-3-Studien. Normalerweise wäre die Wirkung aufgrund des „Verdünnungseffekts“  in der Real-Life-Situation eher geringer, weil die Patienten hier weniger  sorgfältig ausgewählt werden als in klinischen Studien. Auch im Vergleich zu  Fingolimod sei Alemtuzumab besser gewesen, als in einer Netzwerk-Metaanalyse,  die die Substanzen – anstelle eines Head-to-Head-Vergleichs – indirekt  miteinander verglichen hat.

Die Wirkung  auf die Schubrate von Alemtuzumab und Natalizumab war ähnlich (0,20 vs 0,19; p = 0,78). Auf die Behinderungsprogression wirkten alle Substanzen ähnlich. Die Editorialisten  weisen jedoch darauf hin, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind,  weil die Studie für eine solche Erhebung nicht ausreichend gepowert war. Die  Behinderung wurde durch Alemtuzumab signifikant stärker gebessert als durch Interferon  beta und Fingolimod. Und Natalizumab wirkte hier signifikant besser als  Alemtuzumab, vor allem in den ersten Behandlungsjahren.

Als größten  Nachteil der Studie bezeichnen die Autoren, dass Sicherheitsdaten und  radiologische Befunde nicht systematisch und vergleichend erfasst wurden.  Gerade die MRT sei ein wichtiges Verfahren, um die subklinische  Krankheitsaktivität zu messen, welche es das therapeutische Vorgehen  beeinflussen könne.



REFERENZEN:

1. Kalincik T, et al: Lancet Neurology  (online) 10. Februar 2017

2. Sormani MP, et al: Lancet Neurology  (online) 10. Februar 2017

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....