Kann man bei Patienten mit proximalem Verschluss großer Gefäße auf die intravenöse thrombolytische Therapie mit Alteplase (rt-PA) verzichten und stattdessen ausschließlich auf die mechanische Thrombektomie setzen? Die Resultate einer Post-Hoc-Analyse, die jüngst im Fachblatt JAMA Neurology veröffentlicht wurden, scheinen darauf hinauszulaufen [1].
Die Autoren um den Neurologen Dr. Jonathan M. Coutinho, Academic Medical Center, Amsterdam, schreiben in ihrer Publikation: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass – nach Adjustierung auf Confounder – die Kombination von Thrombolyse und Thrombektomie gegenüber der Thrombektomie allein hinsichtlich verfahrenstechnischer, klinischer oder sicherheitsrelevanter Faktoren keinen statistisch signifikanten Vorteil bringt.“
Ein Verzicht auf die Lyse wäre derzeit „fatal“

Prof. Dr. Martin Grond
DGN/D. Gust
Kann man auf die Lyse also zukünftig guten Gewissens verzichten, um beispielsweise etwas Zeit bis zur Thrombektomie einzusparen und/oder das Blutungsrisiko der Patienten zu verringern? Ganz klar nein, sagt Prof. Dr. Martin Grond, Chefarzt der Klinik für Neurologie am Kreisklinikum Siegen, gegenüber Medscape. Tatsächlich hielte er eine solche Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt für „fatal“.
„Wissenschaftlich belegt ist weiterhin nur, dass Thrombektomie plus Lyse effektiver ist als die Lyse allein“, erklärt der ehemalige 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Er verweist in dem Zusammenhang auf die 5 voneinander unabhängigen randomisierten Studien, die Anfang 2015 publiziert wurden (ESCAPE, EXTEND-IA, MR CLEAN, REVASCAT und SWIFT-PRIME).
Alle 5 Studien hatten zeigen können, dass vielen Patienten durch die mechanische Thrombektomie schwerwiegende Behinderungen infolge des Schlaganfalls erspart werden können. „80 bis 100 Prozent der Patienten in den Studien erhielten aber auch eine Lysetherapie“, betont Grond.
Dies sei auch der Grund gewesen, warum sich die Autoren um Coutinho bei ihrer retrospektiven Analyse nicht auf diese neueren Untersuchungen hätten stützen können, erklärt er. Die Vergleichsgruppe ohne Lysetherapie wäre schlicht zu klein gewesen.
Patientenselektion nach unbekannten Kriterien
Coutinho und Kollegen mussten sich deshalb für ihre Post-Hoc-Untersuchung auf die Ergebnisse zweier älterer Studien – SWIFT (2010-2011) und STAR (2010-2012) – stützen. In der SWIFT-Studie wurde der neuere Solitaire-Stent-Retriever mit dem älteren Merci-Retriever verglichen; bei STAR wurde in einer einzelnen Gruppe der Solitaire-Retriever untersucht.
Bei beiden handelte es sich um prospektive Multicenter-Studien, die Patienten mit großen, proximalen Gefäßverschlüssen untersuchten. Die Teilnehmer beider Studien wurden innerhalb von 8 Stunden nach dem ersten Auftreten der Schlaganfallsymptome einer Thrombektomie unterzogen.
Die Thrombolyse wurde innerhalb eines 4,5-stündigen Zeitfensters empfohlen – aber offenbar nicht immer durchgeführt. So erhielten zwar 160 (55%) der insgesamt 291 untersuchten Patienten eine kathetergestützte Thrombektomie nach Thrombolyse. 131 (45%) Schlaganfallpatienten wurden jedoch allein der Stent-Behandlung unterzogen.
Nach welchen Kriterien entschieden wurde, keine Lysebehandlung durchzuführen, bleibt dabei weitgehend unklar. Zwar werde eine Reihe von generellen Kontraindikationen für eine Thrombolyse aufgeführt (z.B. orale Antikoagulation, starker Bluthochdruck oder Diabetes).
Aber Grond ergänzt: „Etwa ein Drittel der Patienten hat trotz fehlender Kontraindikationen keine Lysebehandlung erhalten.“ Warum? Wie der Siegener Experte müssen auch die Autoren um Coutinho bei dieser Frage passen. Letztlich hat man jedenfalls eine Studiengruppe aus Patienten erhalten, die einerseits vergleichsweise häufig unter Krankheiten wie Vorhofflimmern oder Diabetes litten und die andererseits zu einem großen Teil nach unbekannten Selektionskriterien ausgewählt wurden.
Keine signifikanten Assoziationen – Interpretation nicht unproblematisch
Die Autoren um Coutinho bemühten sich trotzdem, ihre Multivariat-Analyse auf mögliche Confounder (Vorhofflimmern, Diabetes, Alter etc.) zu adjustieren. Letzten Endes erhielten sie so auch ein recht eindeutiges Ergebnis. „Wir fanden keine statistisch signifikante Assoziation zwischen der Verwendung der IVT und den untersuchten Ergebnisparametern“, schreiben sie in ihrer Publikation.
Allerdings räumen auch sie ein, dass die Interpretation der Post-Hoc-Analysenergebnisse nicht unproblematisch ist. Abgesehen von den unbekannten Selektionskriterien und möglicherweise unberücksichtigten Confoundern sei die Studienpopulation recht klein gewesen und die Patienten hätten zudem nicht alle die gleiche Dosis rt-PA erhalten.
Erst eine randomisierte Studie kann Antworten liefern
Einige Mediziner scheinen trotz der noch bestehenden Vorbehalte, die derzeit übliche Vorgehensweise – erst Lyse, dann Thrombektomie – ändern zu wollen. Grond berichtet von Kollegen, die planen, zukünftig auf die Lysebehandlung bei großen Gefäßverschlüssen zu verzichten. Seiner Ansicht nach widerspreche ein solches Vorgehen jedoch „jeder wissenschaftlichen Denkweise“.
Erst eine randomisiert-klinische Studie, wie sie beispielsweise derzeit von der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Vitor M. Pereira, leitender Autor der vorliegenden Analyse von der University of Toronto, Kanada, und einer Schweizer Arbeitsgruppe geplant wird (SWIFT-PRIME), könne Antworten liefern, die gegebenenfalls zu einer veränderten Praxis führen könnten.
REFERENZEN:
1. Coutinho JM, et al: JAMA Neurol. (online) 9. Januar 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Schlaganfall: Thrombektomie plus vorherige Lyse ohne Vorteil gegenüber Thrombektomie allein – hat die Lyse ausgedient? - Medscape - 6. Mär 2017.
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