Schlaganfall: Thrombektomie plus vorherige Lyse ohne Vorteil gegenüber Thrombektomie allein – hat die Lyse ausgedient?

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

6. März 2017

Kann man  bei Patienten mit proximalem Verschluss großer Gefäße auf die intravenöse  thrombolytische Therapie mit Alteplase (rt-PA) verzichten und stattdessen  ausschließlich auf die mechanische Thrombektomie setzen? Die Resultate einer  Post-Hoc-Analyse, die jüngst im Fachblatt JAMA  Neurology veröffentlicht wurden, scheinen darauf hinauszulaufen [1].

Die  Autoren um den Neurologen Dr. Jonathan  M. Coutinho, Academic Medical Center, Amsterdam, schreiben in ihrer  Publikation: „Unsere  Ergebnisse deuten darauf hin, dass – nach Adjustierung auf Confounder – die  Kombination von Thrombolyse und Thrombektomie gegenüber der Thrombektomie  allein hinsichtlich verfahrenstechnischer, klinischer oder  sicherheitsrelevanter Faktoren keinen statistisch signifikanten Vorteil bringt.“

Ein Verzicht auf die Lyse wäre derzeit  „fatal“

           

Prof. Dr. Martin Grond

           

DGN/D. Gust

           

Kann man  auf die Lyse also zukünftig guten Gewissens verzichten, um beispielsweise etwas  Zeit bis zur Thrombektomie einzusparen und/oder das Blutungsrisiko der  Patienten zu verringern? Ganz klar nein, sagt Prof. Dr. Martin Grond, Chefarzt der Klinik für Neurologie am  Kreisklinikum Siegen, gegenüber Medscape.  Tatsächlich hielte er eine solche Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt für  „fatal“.

„Wissenschaftlich belegt ist  weiterhin nur, dass Thrombektomie plus Lyse effektiver ist als die Lyse allein“,  erklärt der ehemalige 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).  Er verweist in dem Zusammenhang auf die 5 voneinander unabhängigen  randomisierten Studien, die Anfang 2015 publiziert wurden (ESCAPE, EXTEND-IA,  MR CLEAN, REVASCAT und SWIFT-PRIME).

Alle 5  Studien hatten zeigen können, dass vielen Patienten durch die mechanische  Thrombektomie schwerwiegende Behinderungen infolge des Schlaganfalls erspart  werden können. „80 bis 100 Prozent der Patienten in den Studien erhielten aber  auch eine Lysetherapie“, betont Grond.

 
Unsere Ergebnisse deuten an, dass … die Kombination von Thrombolyse und Thrombektomie gegenüber Thrombektomie allein … keinen statistisch signifikanten Vorteil bringt. Dr. Jonathan M. Coutinho
 

Dies sei  auch der Grund gewesen, warum sich die Autoren um Coutinho bei ihrer  retrospektiven Analyse nicht auf diese neueren Untersuchungen hätten stützen  können, erklärt er. Die Vergleichsgruppe ohne Lysetherapie wäre schlicht zu  klein gewesen.

Patientenselektion nach unbekannten  Kriterien

Coutinho  und Kollegen mussten sich deshalb für ihre Post-Hoc-Untersuchung auf die  Ergebnisse zweier älterer Studien – SWIFT (2010-2011) und STAR (2010-2012) –  stützen. In der SWIFT-Studie wurde der neuere Solitaire-Stent-Retriever mit dem  älteren Merci-Retriever verglichen; bei STAR wurde in einer einzelnen Gruppe  der Solitaire-Retriever untersucht.

Bei beiden  handelte es sich um prospektive Multicenter-Studien, die Patienten mit großen,  proximalen Gefäßverschlüssen untersuchten. Die Teilnehmer beider Studien wurden  innerhalb von 8 Stunden nach dem ersten Auftreten der Schlaganfallsymptome  einer Thrombektomie unterzogen.

Die  Thrombolyse wurde innerhalb eines 4,5-stündigen Zeitfensters empfohlen – aber  offenbar nicht immer durchgeführt. So erhielten zwar 160 (55%) der insgesamt  291 untersuchten Patienten eine kathetergestützte Thrombektomie nach  Thrombolyse. 131 (45%) Schlaganfallpatienten wurden jedoch allein der  Stent-Behandlung unterzogen.

Nach  welchen Kriterien entschieden wurde, keine Lysebehandlung durchzuführen, bleibt  dabei weitgehend unklar. Zwar werde eine Reihe von generellen  Kontraindikationen für eine Thrombolyse aufgeführt (z.B. orale Antikoagulation,  starker Bluthochdruck oder Diabetes).

Aber  Grond ergänzt: „Etwa ein Drittel der Patienten hat trotz fehlender  Kontraindikationen keine Lysebehandlung erhalten.“ Warum? Wie der Siegener  Experte müssen auch die Autoren um Coutinho bei dieser Frage passen. Letztlich  hat man jedenfalls eine Studiengruppe aus Patienten erhalten, die einerseits  vergleichsweise häufig unter Krankheiten wie Vorhofflimmern oder Diabetes  litten und die andererseits zu einem großen Teil nach unbekannten  Selektionskriterien ausgewählt wurden.

Keine signifikanten Assoziationen –  Interpretation nicht unproblematisch

Die  Autoren um Coutinho bemühten sich trotzdem, ihre Multivariat-Analyse auf  mögliche Confounder (Vorhofflimmern, Diabetes, Alter etc.) zu adjustieren.  Letzten Endes erhielten sie so auch ein recht eindeutiges Ergebnis. „Wir fanden  keine statistisch signifikante Assoziation zwischen der Verwendung der IVT und  den untersuchten Ergebnisparametern“, schreiben sie in ihrer Publikation.

 
Wissenschaftlich belegt ist weiterhin nur, dass Thrombektomie plus Lyse effektiver ist als die Lyse allein. Prof. Dr. Martin Grond
 

Allerdings  räumen auch sie ein, dass die Interpretation der Post-Hoc-Analysenergebnisse  nicht unproblematisch ist. Abgesehen von den unbekannten Selektionskriterien  und möglicherweise unberücksichtigten Confoundern sei die Studienpopulation  recht klein gewesen und die Patienten hätten zudem nicht alle die gleiche Dosis  rt-PA erhalten.

Erst eine randomisierte Studie kann  Antworten liefern

Einige Mediziner  scheinen trotz der noch bestehenden Vorbehalte, die derzeit übliche  Vorgehensweise – erst Lyse, dann Thrombektomie – ändern zu wollen. Grond  berichtet von Kollegen, die planen, zukünftig auf die Lysebehandlung bei großen  Gefäßverschlüssen zu verzichten. Seiner Ansicht nach widerspreche ein solches  Vorgehen jedoch „jeder wissenschaftlichen Denkweise“.

Erst  eine randomisiert-klinische Studie, wie sie beispielsweise derzeit von der  Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Vitor M.  Pereira, leitender Autor der vorliegenden Analyse von der University of  Toronto, Kanada, und einer Schweizer Arbeitsgruppe geplant wird (SWIFT-PRIME), könne Antworten liefern, die  gegebenenfalls zu einer veränderten Praxis führen könnten.



REFERENZEN:

1. Coutinho JM, et al: JAMA Neurol. (online)  9. Januar 2017

 

Kommentar

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