Der seit Jahren anhaltende Rechtsstreit um reißanfällige und minderwertige Brustimplantate geht in die nächste Runde: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nun rückwirkend entschieden, dass Prüfstellen wie der TÜV Rheinland grundsätzlich nicht verpflichtet gewesen sind, Medizinprodukte wie Implantate selbst zu prüfen oder unangekündigte Inspektionen durchzuführen bzw. Rechnungsunterlagen zu prüfen, heißt es in einer EuGH-Mitteilung [1]. Sie sind jedoch verpflichtet, konkreten Hinweisen im Sinne des Patientenschutzes nachzugehen, so die Luxemburger Richter.
Der EuGH war vom Bundesgerichtshof eingeschaltet worden, um zu klären, wie europäische Richtlinien die Haftungsfrage für Medizinprodukte wie Brustimplantate zum betreffenden Zeitpunkt auslegt. Ob geschädigte Frauen Schadensersatzbezahlungen bekommen oder nicht, dies müssen nun nationale Gericht nach ihrem geltenden Recht entscheiden.
Eine Klägerin hatte zuvor den TÜV Rheinland auf einen Schadensersatz von 40.000 Euro verklagt und war bis vor den Bundesgerichtshof gezogen. Sie hatte geltend gemacht, dass der TÜV durch die Einsicht in Lieferscheine und Rechnungen hätte erkennen können, dass der französische Hersteller, die Firma Firme PIP (Poly Implant Protèse), nicht genehmigtes Industrie-Silikon verwendete. 2010 hatte der TÜV Rheinland die Zertifizierung widerrufen. Die Firma wurde 2011 liquidiert; die Zuständigen verbüßen eine Haftstrafe.
Weltweit hatten sich hunderttausende Frauen solche Implantate einsetzen und wieder entfernen lassen. Das Handelsgericht von Toulon sprach erst im Januar rund 20.000 Klägerinnen jeweils 3.000 Euro zu – insgesamt 60 Millionen Euro. Der TÜV Rheinland legte dagegen Berufung ein.
Prüfstellen sind verpflichtet, Hinweisen nachzugehen
Obwohl er keine generelle Prüfpflicht sieht, betont der EuGH ausdrücklich, dass Prüfstellen sehr wohl verpflichtet sind, konkreten Hinweisen nachzugehen, wenn Medizinprodukte nicht den Richtlinien entsprächen. „Der EuGH bejahte, dass eine Prüfstelle auch zum Schutz der Patienten tätig wird und dass diese Tätigkeit auch dem Schutz der Patienten dient“, erläutert EuGH-Sprecher Hartmut Ost gegenüber Medscape.
Der TÜV Rheinland wertete das Urteil positiv: „Wir begrüßen die Erläuterungen des EuGH zur Auslegung der europäischen Medizinprodukterichtlinie. Das Urteil bestätigt die Position der TÜV Rheinland LGA Products GmbH in Sachen PIP in den entscheidenden Punkten", so der Sprecher Hartmut Müller-Gerbes von TÜV Rheinland in einer Mitteilung.
Man sei zuversichtlich, dass die Gerichte etwa in Deutschland und Frankreich, zu dem Schluss kommen werden, dass der TÜV Rheinland den Aufgaben als sogenannte „benannte Stelle“ verantwortungsvoll und im Einklang mit allen geltenden Gesetzen und Normen wahrgenommen hat, betonte die Anwältin des TÜV Rheinlands Ina Brock von der Kanzlei Hogan Lovells LLP in der Mitteilung.
Die französische Herstellerfirma der PIP-Brustimplantate hätte die zuständigen französischen Marktüberwachungsbehörden und den TÜV Rheinland als „benannte Stelle“ jahrelang systematisch betrogen, so der TÜV Rheinland. Die betrügerischen Handlungen seien für den TÜV nicht erkennbar gewesen und hätten mit den Mitteln, die einer privaten benannten Stelle von Rechts wegen zustehen, nicht aufgedeckt werden können. Mitarbeiter des TÜVs hatten insgesamt 8 Besichtigungstermine wahrgenommen, ohne dass ihnen Widrigkeiten aufgefallen waren.
Tore für die Haftungsfrage geöffnet
Obwohl es weiterhin in der Schwebe ist, ob die Klägerin entschädigt wird, wertet der Anwalt der Klägerin das Urteil ebenfalls positiv: „Der EuGH hat bestätigt, dass es eine Schutzwirkung für Implantatträger gibt. Der Haftung der benannten Stelle TÜV sind jetzt die Tore geöffnet“, so der Münchener Anwalt der Klägerin, Christian Zierhut, gegenüber Medscape. Jetzt sei es an den nationalen Gerichten zu entscheiden, dass es Hinweise gegeben hätte, betont er.
Nach eigenen Angaben vertritt der Anwalt in weiteren Prozessen 100 Klägerinnen aus Deutschland und 100 aus Frankreich. Er geht davon aus, dass es schon früh Hinweise auf Unregelmäßigkeiten der Firma gegeben hätten – schon seit dem Jahr 2000. „Hinweise gaben zum Beispiel die Meldungen der FDA, die Probleme und Mängel bei PIP auf deren Website veröffentlichte“, so Zierhut. Dies berichtete etwa der Guardian .
Zwar habe es sich hier um kochsalzgefüllte Implantate gehandelt, doch hätte dies der TÜV zum Anlass nehmen können, weiter zu kontrollieren und nicht lediglich zu zertifizieren, meint Zierhut. Auch dass die französischen Behörden Abweichungen festgestellt hätten, hätte zu Kontrollen führen müssen, so die Ansicht von Zierhut.
Mitte 2017 wird europaweit die Medical Device Regulation (MDR) in Kraft treten, die sich stark am Brustimplantat-Skandal orientiert. Künftig sollen Medizinprodukte nach deren Markteinführung besser überwacht werden (wie Medscape berichtete).
REFERENZEN:
1. Gerichtshof der Europäischen Union: Pressemitteilung, 16. Februar 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: EuGH zum Skandal um Brustimplantate: Prüfstellen haben keine generelle Prüfpflicht, müssen aber Hinweisen nachgehen - Medscape - 21. Feb 2017.
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