Bei jeden 5. Patienten, der sich mit Schlaganfall-Symptomen vorstellt, ist der Zeitpunkt des Insults unbekannt. Mit der Thrombolyse steht zwar seit Jahren eine effektive und sichere Akutbehandlung zur Verfügung. Doch die Therapie ist nur innerhalb der ersten 4,5 Stunden zugelassen und in den Leitlinien empfohlen. Ob auch Patienten mit unklarem Zeitfenster von der Lyse profitieren, soll nun die europäische WAKE-UP-Studie unter Leitung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf klären.

Prof. Dr. Joachim Röther
„Die WAKE-UP-Studie ist wichtig, da es bislang keine ausreichende Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit der Thrombolyse bei Patienten mit Schlaganfall und unbekanntem Zeitfenster gibt“, erklärt Prof. Dr. Joachim Röther, Chefarzt der Neurologischen Abteilung der Asklepios Klinik Altona in Hamburg und Sprecher der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) gegenüber Medscape.
„Vor Ende 2018 rechne ich nicht mit den Studienergebnissen“, räumt allerdings PD Dr. Götz Thomalla, Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Coordinating Investigator der Studie ein. Doch das Warten könnte sich lohnen: „Bei dem erwarteten positiven Ausgang ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse von WAKE-UP unverzüglich Eingang in nationale und internationale Leitlinienempfehlungen halten und unmittelbar die klinische Praxis verändern werden.“
Rund 400.000 Patienten pro Jahr in der EU mit unklarem Zeitfenster
Durch das fehlende Wissen um den genauen Zeitpunkt des Schlaganfalls ist eine große Gruppe von Patienten derzeit eigentlich von der Thrombolyse ausgeschlossen. Bei rund 2 Millionen Schlaganfallpatienten jährlich in der Europäischen Union sind das rund 400.000 Patienten pro Jahr.
„Viele Kliniken ziehen bei Schlaganfallpatienten mit unbekanntem Zeitfenster inzwischen eine Lyse in Betracht – unter sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko“, sagt Thomalla. Beispielsweise bei Patienten, die morgens mit neurologischen Symptomen und Lähmungen erwachen. „Soll in einem solchen Fall lysiert werden oder nicht – das ist ein drängendes klinisches Problem“, betont Thomalla im Gespräch mit Medscape.
Röther schätzt, dass schon heute jede zweite Thrombolyse eigentlich off-label durchgeführt wird. Das legt auch eine Umfrage unter 55 internationalen Schlaganfallexperten aus 22 Ländern im Jahr 2016 nahe: 52% sprachen sich bei unbekanntem Zeitfenster für eine i.v. Thrombolyse aus, 48% dagegen, berichtet Röther und fügt hinzu: „Ich denke, in Deutschland fiele die Entscheidung für eine Lyse bei unbekanntem Zeitfenster noch deutlicher aus. Aber noch besser ist natürlich, die Patienten in die WAKE-UP-Studie einzuschließen und dazu beizutragen, dass eine wissenschaftliche Evidenz geschaffen wird.“
Die WAKE-UP-Studie läuft derzeit in 60 Zentren in 8 europäischen Ländern. Rund die Hälfte der geplanten 800 Patienten ist bereits randomisiert. Bisherige Erfahrungen mit WAKE-UP wurden kürzlich auch auf der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) in Wien thematisiert.
Bildgebung gibt Auskunft darüber, wer noch profitieren könnte und wer nicht
Grundsätzlich gilt: Je weniger Zeit zwischen Schlaganfall und Thrombolyse vergeht, desto besser der klinische Effekt. Statistisch gesehen schwindet der Nutzen der Lyse irgendwann nach 4,5 bis 5 Stunden. Dies sind jedoch Mittelwerte. Im Einzelfall kann die Situation ganz anders aussehen. „Es gibt sicher auch Patienten die noch nach 6 Stunden von einer Lyse profitieren, während andere Patienten bereits nach 3 Stunden nicht mehr profitieren“, erläutert Thomalla.
Um zu klären, ob ein Patient, bei dem unbekannt ist, wann sich der Schlaganfall ereignet hat, noch für eine Thrombolyse infrage kommt, wird eine erweiterte Bildgebung mit CT und MRT eingesetzt. Die Aufnahmen zeigen, welches Blutgefäß verschlossen und in welchem Ausmaß das Hirngewebe von der Ischämie in Mitleidenschaft gezogen ist.
Ist nur ein kleines Areal von der Ischämie geschädigt, aber ein großes Gebiet vom Untergang bedroht, spräche dies eher für eine Lyse, erklärt Röther. „Man muss den Patienten beziehungsweise seine Angehörigen allerdings aufklären, dass es sich um einen individuellen Heilversuch handelt“, betont der Experte.
MRT-Aufnahmen können auch Anhaltspunkte liefern, wie lange ein Schlaganfall zurückliegt. Unter Verwendung multiparametrischer MRT – basierend auf dem Konzept des „FLAIR-DWI-Mismatch“ – kann das Alter einer ischämischen Läsion im Gehirn abgeschätzt werden. Dabei zeigt die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DWI) den Verlauf der Nervenbahnen im Gehirn. FLAIR blendet Flüssigkeitsansammlungen aus. Ein Hirninfarkt ist dann jünger als 4 bis 5 Stunden, wenn im DWI Infarktzeichen erkennbar sind, in FLAIR hingegen nicht. „Ist noch fast keine Ödembildung zu erkennen, dann ist ein Schlaganfall noch relativ frisch und ein Patient profitiert wahrscheinlich von der Lyse“, erklärt Thomalla.
Mit der Bildgebung lässt sich auch das Risiko für intrazerebrale Blutungen bei einer Lyse abschätzen, welche die am meisten gefürchtete Komplikation der Therapie darstellen: „Je größer eine Läsion im MRT oder im CT, desto höher ist das Blutungsrisiko“, sagt Thomalla.
Inzwischen gibt es eine zunehmende Zahl von Publikationen zu Thrombolyse-Ergebnissen bei Patienten mit unbekanntem Zeitfenster. „Hier wurden bisher keine Häufungen schwerwiegender Komplikationen berichtet, und es hat sich der Eindruck ergeben, dass bei sorgfältiger Auswahl der Patienten die Off-Label-Thrombolyse bei unbekanntem Zeitfenster ähnliche Ergebnisse zeigen kann wie bei Anwendung innerhalb der Indikationsstellung“, so Thomalla.
Thrombolysen sind häufig auch aufgrund der Altersgrenze off-label
Zu Off-Label-Anwendungen der Lyse komme es auch aufgrund der Altersbeschränkung, erklärt Röther. Denn zugelassen ist die Lyse eigentlich nur bis zum Alter von 80 Jahren. Die Zulassungsstudien beschränkten den Einschluss älterer Patienten, da die Sorge bestand, es könne ein erhöhtes Blutungsrisiko bestehen. Große Registerstudien zeigen aber, dass auch ältere Patienten profitieren. Und: Jeder dritte Schlaganfall-Patient ist älter als 80 Jahre.
„Die älteste Patientin, die enorm von der Thrombolyse profitierte und trotz einer schweren Halbseitenlähmung nach wenigen Tagen nach Hause entlassen werden konnte, war 101 Jahre alt.“ Röther betont, dass bei der Entscheidung ob ein älterer Patient für eine Lyse infrage kommt, das biologische Alter und der prämorbide Gesundheitszustand eine große Rolle spielen. „Einen multimorbiden, bettlägerigen Patienten würde man eher nicht lysieren.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Noch off-label, bald in den Leitlinien? Studie prüft, bei wem nach Schlaganfall mit unklarem Zeitfenster die Lyse lohnt - Medscape - 20. Feb 2017.
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