Berlin – Adipositas wird zum immer gewichtigeren Problem: Bereits fast jeder 4. Erwachsene (23% der Männer und 24% der Frauen) in Deutschland ist laut Robert Koch-Institut (RKI) zu dick, und die Prävalenz nimmt landes-, europa- und weltweit zu.

Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger
„Die schweren Folgeerkrankungen der Adipositas werden die Budgets unseres Gesundheitssystems sprengen, wenn wir nicht bald mit wirksamer Prävention und effektiver kontinuierlicher Betreuung der Patienten gegensteuern. Das muss endlich auch gesundheitspolitisch erkannt und angegangen werden“, warnte Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), auf einer Pressekonferenz der Gesellschaft in Berlin [1].
Intensive Aufklärungs- und Schulungsmaßnahmen nötig
Besonders erschreckend: Die DEGS-Studie (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) des RKI hat gerade bei den jüngeren Erwachsenen einen starken Anstieg der Adipositas-Prävalenz (Body-Mass-Index, BMI ≥ 30 kg/m2) festgestellt. Außerdem sind fast 2 Millionen Kinder in Deutschland übergewichtig.
„Je früher ein Mensch übergewichtig oder adipös wird, desto früher, aber auch schwerwiegender können assoziierte Folgeerkrankungen auftreten“, sagte Schumm-Draeger. Dass hinter einem Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden oder einer Gicht sehr oft ein Gewichtsproblem steckt, müsse vielen allerdings erst bewusst gemacht werden.
Die Münchner Internistin hält intensive Aufklärung und Schulung den besten Weg, um adipöse Patienten zu bewegen, ihren Lebensstil zu ändern. Das Problem ist die Langfristigkeit: Jeder „Rückfall“ mit erneuter Gewichtszunahme bringt auch die damit assoziierte Risikopalette zurück. „Arzt und Patient können dies langfristig nur in den Griff bekommen, wenn eine kontinuierliche, möglichst lebenslange und idealerweise psychologisch unterstützte Betreuung adipöser Menschen erfolgt“, so Schumm-Draeger.
Kostenerstattung nur bei Begleit- und Folgeerkrankungen
Scharf kritisierte die DGIM-Vorsitzende die hiesige Gesundheitspolitik, die weder die Prävention noch die Therapie der Adipositas an sich honoriere, sondern Kosten nur im Zusammenhang mit bereits eingetretenen Begleit- bzw. Folgekrankheiten erstatte: „Die Medizin wird bei uns nach ökonomischen Gesichtspunkten sortiert und nicht nach dem medizinischen Bedarf.“ Dabei seien die zu erwartenden Kosten für nicht verhinderte Adipositas-Spätfolgen weitaus höher als diejenigen für rechtzeitige Interventionen, mit denen sich Spätfolgen vermeiden ließen.

Prof. Dr. Hans Hauner
Mangelndes Problembewusstsein auf Seiten des deutschen Gesundheitswesens sieht auch Prof. Dr. Hans Hauner, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin an der TU München: „Anders als etwa von der WHO ist Adipositas in Deutschland nicht als Krankheit anerkannt. Weder für Diagnostik noch für Behandlungsangebote ist eine Bezahlung durch das Gesundheitssystem vorgesehen.“ Eine solche werde vom G-BA, aber auch den Kassen aus Kostengründen kategorisch abgelehnt, um nicht 15 Millionen Adipösen in Deutschland einen Rechtsanspruch auf entsprechende GKV-Leistungen zu verschaffen.
Die DGIM-Experten fordern, endlich auch hierzulande Adipositas als Krankheit gelten zu lassen.

Prof. Dr. Martina de Zwaan
Adipogene Welt mit Hypomotilität und Hyperalimentation
Die zunehmende Prävalenz der Fettleibigkeit belegt, dass immer mehr Menschen mehr Nahrungsenergie zuführen als für den Erhalt eines normalen Körpergewichts nötig wäre – ohne entsprechenden Ausgleich durch körperliche Bewegung.
Bei der Entstehung von Übergewicht und seinen krankhaften Formen spielen aber auch psychische Faktoren eine wichtige Rolle. „Wir leben in einer adipogenen Welt, die von Hypomotilität und Hyperalimentation geprägt ist und über die Sättigung hinaus via Aktivierung des Belohnungssystems im Gehirn den Verzehr hochkalorischer, energiedichter Nahrungsmittel propagiert“, erklärte Prof. Dr. Martina de Zwaan von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Dabei aktiviere bereits das Anschauen von Essen das Belohnungssystem und den Gehirnstoffwechsel.
Psychosoziale Risikofaktoren
Zahlreiche Untersuchungen hätten zudem gezeigt, dass eine Vergrößerung der Portionsgrößen – wie sie etwa in Fast Food Restaurants über die Jahre in großem Maße stattgefunden habe – fast automatisch dazu führt, dass auch deutlich mehr gegessen wird. „Wer mit diesem Überfluss an Nahrung sinnvoll umgehen möchte“, erläuterte de Zwaan, „muss sich stark willentlich kontrollieren. Das können manche Menschen besser als andere. Und es gibt psychische Risikofaktoren, die die kognitive Kontrolle beeinträchtigen können.“
Zu diesen psychosozialen Risikofaktoren für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas zählt die S3-Leitlinie aus 2014 etwa Schlafmangel, Stress, depressive Erkrankungen, Impulsivität bis hin zu ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Essstörungen wie Binge-Eating.
De Zwaan zufolge gibt es bis heute zwar keine schlüssigen Hinweise für eine ausschließlich psychische Verursachung von Übergewicht und Adipositas, im Einzelfall könnten psychische Faktoren jedoch eine große Rolle spielen.
Motivation zu lebenslanger Verhaltensänderung nötig
Neben der medizinischen Behandlung eventueller Komorbiditäten einer Adipositas „muss bei den Patienten die Motivation zu einer Verhaltensänderung geschaffen werden, die ein Leben lang durchzuhalten ist“, betonte die Psychosomatikerin. Auf Dauer weniger oder anders zu essen und sich mehr zu bewegen fällt vielen schwer.
Deshalb gelte es auch, die Ansprüche – sowohl der Ärzte als auch der Patienten – zu reduzieren und realistische Ziele zu setzen. „Es ist bereits ein Gewinn – auch für die metabolische Situation eines Patienten – wenn ein Patient 5 bis 10% seines Körpergewichts – zum Beispiel von 100 Kilo – reduziert. Wenig ist in diesen Fällen mehr, wenn die Patienten ihr Gewicht auf Dauer halten können.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Adipositas: Internisten fordern Anerkennung als Krankheit – und Bezahlung durch das Gesundheitssystem - Medscape - 13. Feb 2017.
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