Nicht nur für Frühgeborene, sondern auch für reif geborene Babys hat das verzögerte Abnabeln nach der Geburt viele Vorteile, schlussfolgern amerikanische Geburtshelfer aus ihren Recherchen. Das Committee on Obstetric Practice des American College of Obstetricians and Gynecologists hat darum jetzt die Committee Opinion 684 mit dem Titel „Delayed Umbilical Cord Clamping After Birth“ veröffentlicht – und damit seine aus 2012 stammende Committee Opinion 543 zum selben Thema ersetzt [1] .
„Bei reif geborenen Säuglingen erhöht das verzögerte Abnabeln die Hämoglobinwerte bei der Geburt und verbessert die Eisenspeicher in den ersten Lebensmonaten, was einen positiven Effekt auf die Entwicklung haben kann.“ Dieses Fazit zieht die Arbeitsgruppe um Dr. Maria A. Mascola aus der Marshfield Klinik in Wisconsin aus den neuesten internationalen Studien. „Bei frühgeborenen Säuglingen ist das verzögerte Abnabeln mit signifikanten neonatalen Benefits assoziiert“, ergänzen die Autoren. Dazu zählen: stabilerer Kreislauf, vermindertes Risiko für behandlungsbedürftige Anämien, nekrotisierende Enterokolitis und intraventrikuläre Blutungen.

Prof. Dr. Egbert Herting
„Die Empfehlungen sind aus neonatologischer Sicht unstrittig“, kommentiert dies Prof. Dr. Egbert Herting, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Gegenüber Medscape betont er, dass die US-Experten damit ein klares Signal setzen: „In dieser Publikation sind die Studienergebnisse der letzten 5 Jahre zusammengefasst, und alles ist enthalten, was auch in Deutschland zum Leitlinien-Wissen gehört.“
Allerdings existierten nach wie vor Gruppen von Neugeborenen, bei denen das verzögerte Abnabeln womöglich Risiken berge, gibt er zu bedenken. Aufgeführt in der Publikation sind Kinder mit Störungen der plazentalen Zirkulation und solche ohne Lebenszeichen.
Herting ergänzt: „Auch bei übertragenen oder stark hypotrophen Neugeborenen wissen wir derzeit nicht, ob sie durch das verzögerte Abnabeln eventuell übertransfundiert werden und dadurch Nachteile haben können.“ Des Weiteren fehlten noch immer Studienergebnisse zu Mehrlingen.
Viele Vorteile für Kinder, keine Nachteile für Mütter
Als „delayed umbilical cord clamping“ definieren die Autoren das Durchtrennen der Nabelschnur nach 30 bis 60 Sekunden oder aber später. Die letzte Committee Opinion aus 2012 empfahl lediglich bei Frühgeborenen dieses Vorgehen – zu den Vorteilen bei zum Termin geborenen Kindern, so die Autoren damals, gebe es zu wenig Evidenz.
Dies änderte sich 2013 mit einem Cochrane Review, in den 15 Studien mit 3.911 Mutter-Kind-Paaren eingegangen waren. Dieser bewertete das verzögerte Abnabeln auch als vorteilhaft für die reif geborenen Kinder und zudem als sicher für sie und ihre Mütter. Zwar hatten die sofort abgenabelten Säuglinge ein niedrigeres Risiko, dass ihre Gelbsucht mit Phototherapie behandelt werden musste (RR 0,62, 95%-KI: 0,41-0,96). Kein Baby kam jedoch durch die Gelbsucht oder deren Behandlung zu Schaden.
Inzwischen gibt es zusätzlich Hinweise, dass das verzögerte Abnabeln die soziale und motorische Entwicklung reif geborener Kinder positiv beeinflusst. 2015 zeigte eine Studie mit 263 Kindern aus Schweden, dass Vierjährige, deren Nabelschnur nach der Geburt auspulsieren durfte, moderat bessere soziale Fähigkeiten sowie feinmotorische Fähigkeiten aufwiesen – verglichen mit Kindern, die sofort abgenabelt worden waren. Das, meinten die Autoren, könne eine Folge der besseren Eisenversorgung bei später Abnabelung sein.
Verzögertes Abnabeln: Vorteilhaft auch für Frühgeborene
Auch zu den Vorteilen, die Frühgeborene durch das verzögerte Abnabeln haben, gibt es inzwischen weitere Studienergebnisse. 2012 erschien ein Cochrane Review, der 15 Studien mit 738 Säuglingen einbezog. Die Kernergebnisse: Unreif geborene Säuglinge, die verzögert abgenabelt worden waren, mussten signifikant seltener wegen einer Anämie transfundiert werden, hatten deutlich seltener nekrotisierende Enterokolitis und Hirnblutungen.
Auch langfristig profitieren die Frühgeborene offensichtlich vom verzögerten Abnabeln: 2016 ergab eine US-Studie zur Entwicklung von 208 Kindern, die nach maximal 32 Schwangerschaftswochen zur Welt gekommen waren, dass im Alter von eineinhalb Jahren motorische Auffälligkeiten nach verzögertem Abnabeln seltener waren, als wenn die Nabelschnur bei der Geburt sofort durchtrennt worden war.
In der Praxis gibt es viele Grenzfälle
In den aktuellen Studien fanden sich keine Hinweise, dass das verzögerte Abnabeln mit erhöhten Risiken für die Mütter assoziiert ist. In der Praxis gibt es dennoch immer noch einiges, was für ein sofortiges Abnabeln spricht, gibt Herting zu bedenken. Vor allem bei Frühgeborenen, die wiederbelebt werden müssen, oder bei Mehrlingen ist das Zuwarten oft nicht praktikabel.
„Es gibt zwar einen Trend, mit der Erstversorgungseinheit für Frühgeborene direkt in den Sectio-OP zu ziehen“, berichtet der Neonatologe, „doch das muss vom Platz her möglich sein, alles muss steril gemacht werden können, und es ist auch noch nicht bekannt, ob durch die zusätzlichen Personen im OP die Mütter zusätzliche Risiken haben.“
Im Zweifel: „Melken“ der Nabelschnur?
Im Zweifel entscheiden sich Geburtshelfer oft für das „Melken“ der Nabelschnur. Diese Methode – das viermalige Ausstreichen der Nabelschnur in Richtung des Kindes vor dem Abklemmen – nimmt etwa 10 bis 15 Sekunden in Anspruch und ermöglicht danach eine rasche Versorgung. Auch dieses Melken der Nabelschnur bringt aktuellen Studien zufolge den Neugeborenen signifikante Vorteile in Bezug auf die Eisenversorgung und den Schutz vor Hirnblutungen.
Aus diesem Grunde erwähnt auch die neue Committee Opinion das „Umbilical Cord Milking“ – ohne jedoch zu verschweigen, dass „dies ein Bereich ist, in dem aktiv geforscht wird. Mehrere laufende Studien evaluieren die möglichen Vorteile und Risiken des Melkens der Nabelschnur, verglichen mit dem verzögerten Abnabeln, vor allem bei extrem unreifen Neugeborenen. Eine Empfehlung dazu geben die Autoren darum zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Wichtig auch für Länder mit geringen Ressourcen
Herting begrüßt, dass die aktuelle Committee Opinion auch zum Thema „Wo soll das Neugeborene nach der Geburt und vor dem Abnabeln gelagert werden?“ Stellung bezieht. „Es gibt ja bei geburtshilflichen Fragen nicht nur die medizinische Dimension, sondern auch die Frage des Bondings zur Mutter“, erinnert er. „2014 erschien eine Studie aus Argentinien, die ergab, dass das Blut aus der Plazenta auch dann zu den Kindern gelangt, wenn sie nicht unterhalb der Plazenta gehalten werden.“ Diese Studie wird in der Committee Opinion zitiert.
Dies sende 2 wichtige Botschaften an Geburtshelfer, so Herting:
Es spricht alles dafür, vitale Neugeborene sofort auf den Bauch oder die Brust ihrer Mutter zu legen, während die Nabelschnur noch pulsiert – das kann das Bonding fördern.
Außerdem sind Vorteile durch das verzögerte Abnabeln auch in weniger entwickelten Ländern von Bedeutung.
„Neugeborene ab etwa 1.500 Gramm können dadurch auch unter einfachen Bedingungen gut stabilisiert werden“, so Herting. „Gerade in Ländern mit geringen Ressourcen und in Settings ohne Möglichkeit, die Neugeborenen zu transfundieren oder zu beatmen, können so möglicherweise Leben gerettet werden.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Länger an der Nabelschnur: Verzögertes Abnabeln hilft (fast) allen Neugeborenen und ist auch für die Mutter sicher - Medscape - 7. Feb 2017.
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