Mysterium „stummer“ Infarkt: Alles nur eine Frage der Schmerztoleranz? So einfach scheint es nicht …

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

26. Januar 2017

Menschen mit einer hohen Schmerztoleranz laufen Gefahr, einen Herzinfarkt zu erleiden, ohne ihn zu bemerken. Das zumindest vermutet eine norwegische Forschergruppe um Dr. Andrea Milde Øhrn von der Universität Tromsø. Ihre Untersuchungen zur Schmerzgrenze bei mehr als 4.800 Patienten haben ergeben, dass diejenigen, die laut EKG-Aufzeichnungen einen „stummen Infarkt“ hatten, Schmerzen länger aushalten können als diejenigen, die die Symptome ihres Infarkts spürten [1].

Prof. Dr. Udo Sechtem

„Es ist unklar, warum manche Menschen einen Herzinfarkt erleiden, jedoch keine Symptome wahrnehmen“, sagt Studienleiterin Øhrn. „Eine mögliche Erklärung wäre deren hohe Schmerztoleranz.“ Bisher habe keine Studie diesen Zusammenhang genauer untersucht, schreibt das Autorenkollektiv im Journal of the American Heart Association.

„Die Erkenntnislage hinsichtlich des stummen Infarkts ist desillusionierend“, sagt Prof. Dr. Udo Sechtem, Chefarzt der Abteilung für Kardiologie am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung, im Gespräch mit Medscape. Daran ändere auch die norwegische Untersuchung nichts. Schmerzempfinden spielt aber seiner Erfahrung nach bei der Wahrnehmung von Brustsymptomen keine entscheidende Rolle. „Mich überzeugt die Studie und Interpretation der Forschergruppe nicht wirklich“, bemerkt er.

Mehr als ein Drittel aller Infarkte bleibt unbemerkt

Experten gehen davon aus, dass mehr als jeder 3. Herzinfarkt ohne Symptome auftritt und erst später aufgedeckt wird. Zwar verspüren manche Patienten, die keinen Brustschmerz wahrnehmen, Schwindel, Atemnot oder Ohnmacht – aber nur für kurze Zeit – und sehen daher keine Notwendigkeit, einen Arzt aufzusuchen, was schwere Folgen haben kann.

Mysterium „stummer Infarkt“: Weder bei Frauen noch Diabetikern häufiger

„Wir sind immer wieder überrascht, wenn wir im CT sehen, dass ein Patient einen Infarkt erlitten hat, von dem er aber nichts gespürt hatte“, sagt Sechtem zum Phänomen „stummer Infarkt“. Dabei spiele auch die Größe des Infarkts keine entscheidende Rolle, sehe man von sehr schweren Infarkten ab, die mit großen Schmerzen einhergingen. „Erleiden jüngere Männer einen sehr schweren Infarkt, ist dieser hoch-symptomatisch“, erklärt er.

Insgesamt klagen jedoch weniger als die Hälfte aller Infarkt-Patienten über Angina pectoris. Und Frauen kommen in der Regel erst später nach einem Infarkt in die Klinik, weil ihre Schmerzen meist weniger stark ausgeprägt seien als bei Männern. Jedoch trete der stumme Infarkt beim weiblichen Geschlecht nicht häufiger auf als beim männlichen.

Auch ansonsten sei es schwierig bis unmöglich, das Drittel, dessen Infarkte stumm bleiben, zu charakterisieren. Selbst Diabetiker seien nicht mehr gefährdet als andere Menschen mit Risikofaktoren. Einige Experten vermuten, dass Diabetiker aufgrund einer diabetischen Neuropathie häufig keinen Brustschmerz spüren. Doch dass diese Risikogruppe mehr stumme Infarkte erleide, werde durch die Statistik nicht gestützt, bemerkt Sechtem.

Wichtig sei, dass auch symptomatische Infarkte nicht auf Brustschmerz beschränkt sein müssen. „Oft kommen Patienten mit Schmerzen im Rücken oder im Oberbauch – auch diese Beschwerden können auf einen Infarkt hindeuten“, so Sechtem.

Primärprävention sei der einzige Weg, die Zahl der stummen Infarkte zu reduzieren. Das gilt natürlich besonders für Risikogruppen wie Diabetiker. „Wenn diese Patienten einen Infarkt verhindern wollen, müssen sie die Prävention diszipliniert durchhalten“, mahnt der Experte.


Patienten mit stummem Infarkt hielten im Eiswasser-Test länger durch

Um einen möglichen Zusammenhang eines stummen Infarkts mit der Schmerzempfindlichkeit der Patienten zu überprüfen, hat die Forschergruppe im Rahmen der Tromsø Kohortenstudie 4.849 Erwachsene einem Eiswasser-Test (Cold-pressor-Test, CPT), der die Schmerztoleranz misst, sowie einem Standard-12-Kanal-EKG unterzogen.

 
Mich überzeugt die Studie und Interpretation der Forschergruppe nicht wirklich. Prof. Dr. Udo Sechtem
 

Bei dem Eiswasser-Test legen die Probanden ihre Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser (3°C); maximal 106 Sekunden lang. Anhand der aktuellen EKG-Aufzeichnungen sowie Daten zu früheren Krankenhausaufenthalten wurde rekonstruiert, ob die Testpersonen einen Herzinfarkt erlitten hatten – und ob er symptomatisch oder asymptomatisch verlaufen ist.

Insgesamt trat bei 8% der Teilnehmer (n = 387) ein stummer Infarkt auf, bei 4,9% (n = 227) ein symptomatischer Infarkt. Den CPT beendeten 1.509 Teilnehmer vorzeitig. Weniger Teilnehmer mit stummem Herzinfarkt (25%) beendeten den Test frühzeitig als Teilnehmer mit symptomatischem Infarkt (33%).

Diejenigen mit einem stummen Infarkt hielten den Eiswasser-Test signifikant länger aus, und ein kleinerer Teil von ihnen beendete ihn vorzeitig – im Vergleich zu den Teilnehmern, die Brustschmerz und andere Symptome ihres Infarkts bemerkt hatten. Dieser Zusammenhang war bei Frauen ausgeprägter als bei den männlichen Teilnehmern – und behielt seine statistische Signifikanz nach einer multivariablen Anpassung nur noch bei den weiblichen Probanden.

Frauen hatten insgesamt weniger Infarkte als Männer (7  vs 19%). Jedoch war der Anteil stummer Infarkte mit 75% bei ihnen wesentlich höher als bei den Männern (58%).

 
Ein stummer Infarkt sollte auch in Betracht gezogen werden, wenn ein Patient schwer atmet und geschwollene Beine hat. Dr. Andrea Milde Øhrn
 

Schmerzempfinden in der Praxis thematisieren

Øhrn und ihre Kollegen sind überzeugt, dass die Schmerztoleranz beim Bemerken der Symptome eines Infarkts ausschlaggebend sein kann. „Unsere Ergebnisse deuten an, dass Unterschiede im Schmerzempfinden die Wahrnehmung eines Myokardinfarkts beeinflussen“, schreiben sie – und fordern das Einbeziehen dieses Faktors in der Prävention.

„Wenn man Patienten nach ihrem Schmerzempfinden fragt, erhält man ein klareres Bild darüber, ob sie herzspezifische Symptome bemerken oder nicht, wenn sie einen Infarkt erleiden“, erklärt Øhrn. „Auch ohne Brustschmerz sollten Ärzte immer auch einem Myokardinfarkt in Betracht ziehen.“

Experte vermisst neue Erkenntnisse, wie man stumme Infarkte verhindern kann

Die Verbindung zwischen Schmerzempfinden und stummem oder symptomatischem Myokardinfarkt sei nicht signifikant geblieben, argumentiert Sechtem. Zudem sei durch ein EKG keine sichere Diagnose des stummen Infarkts garantiert. „Daher wissen wir jetzt immer noch nicht, wie wir stumme Infarkte verhindern können.“

Neue Erkenntnisse dahingehend könne man wahrscheinlich nur in einer Kernspintomografie-Studie gewinnen. Die ist jedoch zu kostspielig und wird daher wahrscheinlich nie durchgeführt werden, fügt Sechtem an.

 
Oft kommen Patienten mit Schmerzen im Rücken oder im Oberbauch – auch diese Beschwerden können auf einen Infarkt hindeuten. Prof. Dr. Udo Sechtem
 

Stummer Infarkt – ein verstecktes Gesundheitsproblem

Die hohe Prävalenz und schlechte Prognose des stummen Infarkts mache ihn zu einem „versteckten Gesundheitsproblem, das insbesondere bei Frauen einen großen Teil der Herzkrankheiten ausmacht. Das ,stumm‘ ist der Komplikationsfaktor beim stummen Infarkt – oft wird er erst lange nach dem akuten Ereignis erkannt, beim Besuch in der Arztpraxis oder zufällig im Krankhaus, wenn ein EKG geschrieben wird“, erklärt Øhrn.

In diesen Fällen sei es wichtig, die Patienten auf kardiovaskuläre Risikofaktoren hin zu untersuchen, etwa Bluthochdruck oder hohe Cholesterinwerte, und diese rigoros zu behandeln. „Ein stummer Infarkt sollte auch in Betracht gezogen werden, wenn ein Patient schwer atmet und geschwollene Beine hat. Dabei könnte es sich um Symptome einer Herzinsuffizienz handeln, die auftritt, weil er bereits zuvor einen Infarkt erlitten hatte, der aber unbemerkt geblieben war“, so Øhrn.

 

REFERENZEN:

1. Øhrn AM, et al: J Am Heart Assoc. 2016;5:e003846

 

Kommentar

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