Ernährung ist sprichwörtlich in aller Munde. Aber welche ist denn nun empfehlenswert? Und vor allem welche Ernährungsempfehlungen sind es wert, von den Kassen unterstützt zu werden? 2 Ernährungsberaterinnen sind mit der derzeitigen Praxis nicht einverstanden. Sie haben eine Initiative gestartet, die sich dagegen richtet, dass die bereits in die Jahre gekommene Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) nach wie vor als das Maß aller Dinge gelten soll. Es geht um die als ideal geltende Nährstoffzusammensetzung in der täglichen Ernährung von 10 bis 15% Eiweiß, 30% Fett und 55 bis 60% Kohlenhydraten.
Birgit Blumenschein aus Münster und Daniela Kluthe-Neis aus Ulm wollen diese Kriterien gelockert sehen. Sie haben deshalb an die Präsidentin der DGE, Prof. Dr. Ulrike Arens-Azevedo, geschrieben [1]. Der Anlass: die „seit Jahren gelebte Ungereimtheit unter Ernährungsfachkräften“ bezüglich der „konzeptionellen Vorgabe der Zentralen Prüfstelle Prävention für das unbedingte Einhalten des von der DGE geforderten Nährstoffverhältnisses“, wie es in dem Schreiben heißt.
Denn, so argumentieren die beiden Beraterinnen, die genannte Nährstoffrelation der DGE sei nur gut für Gesunde. Dagegen benötigten Patienten mit Diabetes, Überwicht oder Koronarer Herzkrankheit eine individuell angepasste Beratung. „In den letzten 5 bis 8 Jahren sind Evidenzen hinzugekommen, die zeigen: Die geltenden Nährstoffrelationen sind zu eng gefasst“, begründet Blumenschein die Forderung.
Zentrale Prüfstelle genehmigt Konzepte, Kassen erstatten erst dann
Die Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP) ist wichtig, weil sie die Konzepte der Beratungen genehmigen muss, sonst erstatten die Kassen diese Beratungen nicht. Längst setze die moderne Ernährungsberatung auf modifizierte Nährwertrelationen, sagt Blumenschein gegenüber Medscape. Doch bei der ZPP sei dies noch nicht angekommen. Statt auf flexibel gestaltete Konzepte setze diese nach wie vor allein auf die DGE-Empfehlungen.
„Es soll eine bedarfsgerechte ausgewogene Energiebilanz durch eine fettmoderate, kohlenhydratbetonte und ballaststoffreiche Kost nach den aktuellen Beratungsstandards und Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung vermittelt werden“, zitieren Blumenschein und Kluthe-Neis aus einem Schreiben der ZPP aus dem vergangenen Jahr. Die beiden Frauen kritisieren ein „scheinbar unreflektiertes Prüfverfahren mit meist wörtlicher Übernahme der DGE-Kontexte.“
DGE Kriterien gelten nur für gesunde Menschen, nicht für kranke
„Was wir brauchen, sind Spielräume, so dass bei bestimmten Patienten auch zum Beispiel die Grenze von 55 Prozent Kohlenhydraten unterschritten werden kann“, so Blumenschein. Oder es solle nur ein Korridor von 15 bis 20% Eiweiß vorgeschrieben werden, schlägt sie vor, „dann könnten wir individualisieren. Hat dann ein Patient Fettstoffwechselstörungen in der Familie, könnten wir zum Beispiel zu etwas mehr Eiweiß und etwas weniger Kohlenhydraten raten.“
Auch finanzielle Perspektive der Auseinandersetzung
Bei der Auseinandersetzung geht es nicht nur um ernährungswissenschaftliche Aspekte, sondern auch um finanzielle. Denn erst ein von der ZPP zertifiziertes Beratungskonzept wird auch von den Kassen bezahlt bzw. bezuschusst.
Die ZPP habe damit ihre Gründe, so strikt auf die DGE-Vorgaben zu pochen, meint denn auch Blumenschein. Schließlich geht es ums Geld. Immerhin haben sich alle Krankenkassen auf gemeinsame Kriterien einigen müssen, nach denen sie nun von der ZPP Yoga-Kurse, autogenes Training oder eben Ernährungsberatungen zertifizieren lassen.
„Bevor es die ZPP gab, mussten wir jedes unserer Konzepte direkt von der Kasse des Patienten einzeln genehmigen lassen“, sagt Blumenschein. „Das war natürlich sehr viel Aufwand für die Kassen und für uns.“ Jetzt erwartet Blumenschein, dass die ZPP nun wegen des Drucks der öffentlichen Diskussion weniger streng mit den DGE-Vorgaben umgeht, und „dass die Anträge mit modifizierten Nährwertrelationen trotzdem zertifiziert werden“.
DGE: Die Zentrale Prüfstelle Prävention ist zu streng
Auch die DGE meint, die Kassen und die Zentrale Prüfstelle Prävention würden die DGE-Kriterien „zu streng auslegen“, wie Isabelle Keller von der Pressestelle der DGE auf Nachfrage von Medscape einräumt. Die ZPP habe Vorgaben festgelegt, „die von der DGE so gar nicht vorgegeben wurden. Unsere Richtlinie beziehen sich auf gesunde Personen“, bestätigt Keller. „Wenn es aber um Gewichtsreduktion geht, dann gilt die Adipositas-Leitlinie, die wir mitentwickelt haben. Und da steht klar drin: Um ein Energiedefizit zu erreichen, können verschiedene Strategien angewandt werden.“
Die DGE distanziert sich damit vom starren Konzept der ZPP. Die Empfehlungen der DGE seien auch nicht mit der Intention verfasst worden, um als Kriterien der Erstattung genutzt zu werden. Die Beratung solle selbstverständlich individuell und der Lebenssituation des Patienten angepasst sein. „Wir sehen deshalb die Lösung des Problems auf der Ebene des GKV-Spitzenverbandes“, so Keller.
Wie lange müssen die Ernährungsberater aber noch auf gelockerte Kriterien warten? Auf viele Selbstzahler dürften die Beraterinnen umsonst hoffen. Je nach Landstrich werden 70 bis 120 Euro pro Beratungsstunde fällig, Gruppen-Schulungen mit 10 Einheiten kosten pro Teilnehmer 250 bis 300 Euro. Das mag kaum jemand privat finanzieren können oder wollen.
Die meisten gesetzlichen Kassen bezahlen 75 bis 80% der Beratungskosten; Betriebskrankenkassen mitunter sogar 100% – vorausgesetzt, die ZPP hat zugestimmt. Bis generell gelockerte Kriterien gelten, mag mancher Berater seine Anträge den strengen ZPP-Kriterien anpassen, aber in der Beratung tatsächlich so vorgehen, wie er es für richtig hält – und die Auseinandersetzung in dieser Hinsicht zum Sturm im Wasserglas machen.
REFERENZEN:
1. Blumenschein B, Kluthe-Neis D: Brief an das DGE-Präsidium, Dezember 2016
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Ernährungsberaterinnen fordern: DGE-Kriterien nicht länger das Maß aller Dinge – vor allem nicht, wenn’s ums Geld geht - Medscape - 25. Jan 2017.
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