Die amerikanische Diabetes-Gesellschaft (ADA) hat ihre Empfehlungen zur Versorgung von Patienten mit Diabetes aktualisiert. Die neuen „Standards of Medical Care in Diabetes“ enthalten unter anderem erstmals für den Typ-1-Diabetes eine Unterteilung, die auch prädiabetische Stadien umfasst und sich auf die Level der verschiedenen Antikörper sowie den Glukosestatus stützt.
Außerdem sind in den neuen US-Standards für Diabetiker mit Bluthochdruck nun auch Thiaziddiuretika und Kalziumkanalblocker (zusätzlich zu AT1-Rezeptorantagonisten und ACE-Hemmern) als Therapieoptionen aufgeführt und für Diabetiker mit kardiovaskulären Erkrankungen werden explizit Empagliflozin oder Liraglutid zur Glukosesenkung empfohlen.

Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland
Die neue Einteilung in 2 prädiabetische Stadien und das Vollbild des Typ-1-Diabetes, die sich am Glukose- und Antikörperstatus orientiert, stößt in Deutschland eher auf Kritik. „Meines Erachtens ist dies verfrüht“, sagt Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland, Mediensprecher und Vizepräsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DGG) gegenüber Medscape. „Hierzu laufen noch große Studien, unter anderem auch in Deutschland. Ein kritischer Punkt ist vor allem die Frage des prädiktiven Wertes verschiedener Konstellationen der Antikörper in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit und Zeitdauer bis zu einer Manifestation der Erkrankung“, erläutert er.
Ein Schwerpunkt der Aktualisierung lag auf psychosozialen Aspekten, wie dem Selbstmanagement der Erkrankung, Lebensstiländerungen, der psychischen Gesundheit, Komorbiditäten und der Arzt-Patienten-Kommunikation. Durch die gesamte Leitlinie zieht sich ein patientenzentrierter Ansatz. Dem Patienten soll seine aktive Rolle im Behandlungsprozess bewusst gemacht werden, ohne ihn mit negativen Rückmeldungen, beispielsweise zur Compliance, zu demotivieren.
Aus deutscher Perspektive sind diese Anpassungen nichts Neues, wie Müller-Wieland erläutert: „Der in den amerikanischen Empfehlungen hervorgehobene Stellenwert einer Patienten-zentrierten Versorgung, auch unter Berücksichtigung der Morbidität und des sozialen Umfeldes, ist selbstverständlich auch bereits wesentlicher Teil der Empfehlungen in Deutschland und Europa.“
Prävention, Screening, Risikofaktoren und Klassifikation
Eine informelle Erhebung von Risikofaktoren oder ein Fragebogen wie der ADA-Risikotest können helfen, asymptomatische Patienten mit einem Prädiabetes oder einem Typ-2-Diabetes zu identifizieren und gegebenenfalls weitere diagnostische Schritte einzuleiten, heißt es im US-Papier.
Die Empfehlungen betonen auch, dass die Vorstellung, dass ein Typ-2-Diabetes nur bei Erwachsenen und ein Typ-1-Diabetes nur bei Kindern auftritt, inzwischen längst überholt ist. Zentrale Faktoren einer noch zu erarbeitenden, einheitlichen Diabetes-Klassifikation sollen daher den Autoren zufolge die B-Zell-Dysfunktion und der Glukosestatus sein.
Da besonders die Pathophysiologie des Typ-1-Diabetes mittlerweile gut erforscht ist, wurde für diesen Subtyp der Erkrankung ein neues Staging-System eingeführt. Die Unterteilung erfolgt in 3 Stadien nach den diagnostischen Kriterien Autoimmunität, Glykämiestatuts und Symptomatik, wobei die Stadien 1 und 2 prädiabetisch sind.
Stadien des Typ-1-Diabetes
Stadium 1 | Stadium 2 | Stadium 3 | |
Stadium |
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Diagnostische Kriterien |
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Basierend auf Empfehlungen der International Hypoglycaemia Study Group wurde auch die Hypoglykämie-Klassifikation angepasst. Eine klinisch signifikante Hypoglykämie liegt demnach bei einem Glukosewert < 54 mg/dl (3,0 mmol/l) vor. Der Grenzwert für Hypoglykämien (leichte) wurde auf ≤ 70 mg/dl (3,9 mmol/l) festgelegt.
Neu ist das Thema „Diabetes nach Transplantation“. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass in dieser speziellen Patientengruppen häufig in den ersten Wochen nach Transplantation eine Steroid-induzierte Hyperglykämie auftritt, bei Nierentransplantationen betrifft dies 90% der Patienten. Es wird empfohlen, alle Organempfänger nach Transplantation auf eine Hyperglykämie zu testen. Die antidiabetische Behandlung sollte unabhängig von der Art der eingesetzten Immunsuppression erfolgen.
Lebensstil: Schlafqualität beeinflusst HbA1c-Wert
Bewegung ist ein wichtiger Bestandteil der Diabetes-Therapie. Basierend auf neuen Erkenntnissen soll diese noch stärker in den normalen Alltag integriert werden. Konkret empfiehlt die Leitlinie, eine sitzende Tätigkeit aller 30 Minuten mit kurzen körperlichen Aktivitäten zu unterbrechen.
Nicht nur Bewegung, auch die Art des Schlafes kann sich auf den Diabetes auswirken. Da eine Metaanalyse gezeigt hat, dass schlechter und kurzer Schlaf ebenso wie langer Schlaf bei Typ-2-Diabetikern mit einem höheren HbA1c-Wert assoziiert sind, wird empfohlen, nun auch Informationen zum Schlafmuster und zur Schlafqualität der Patienten zu erheben.
Psychische Komorbiditäten
Bestimmte Komorbiditäten treten bei Diabetikern häufiger auf als in der Normalbevölkerung. Insbesondere psychische Begleiterkrankungen sollen den Empfehlungen zufolge stärker berücksichtigt werden, da sie die Diabetes-Therapie ungünstig beeinflussen können.
Neben Autoimmunkrankheiten und HIV-Infektionen wurden in das Screening auch Angsterkrankungen, Depressionen, Ess-Störungen und schwere psychische Störungen wie Schizophrenie neu aufgenommen. In dem Zusammenhang werden Empfehlungen gegeben, wann eine Überweisung zu einem Psychologen angeraten ist.
Anpassung der Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung
Der Algorithmus der Kombinationstherapie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes wurde geändert. In Studien war die Kombination Basalinsulin plus kurzwirksamer GLP-1-Rezeptor-Agonist ebenso gut wie Basalinsulin plus schnell wirkendes Insulin bzw. 2-mal täglich ein vorgemischtes Insulin. So werden diese Therapieoptionen gleichberechtigt aufgeführt. Ebenso waren Insulin-Fertigmischungen, mehrfach dosiert, und eine Basis-Bolus-Therapie in Studien ähnlich wirksam und sind damit gleich gute Optionen.
Da neue Studien einen Zusammenhang zwischen einem Vitamin-B12-Mangel und der langfristigen Einnahme von Metformin gezeigt haben, wird nun empfohlen, unter Gabe des Biguanids regelmäßig den Vitamin-B12-Spiegel zu prüfen. Dies gilt besonders bei Vorliegen einer Anämie und einer peripheren Neuropathie.
Bei Patienten mit schlecht kontrolliertem Typ-2 und kardiovaskulären Erkrankungen sollten Empagliflozin oder Liraglutid als Antidiabetika in Erwägung gezogen werden, lautet eine weitere neue Empfehlung. Dies mit Verweis auf die beiden Studien EMPA-REG und LEADER, in denen der SGLT2-Hemmer bzw. das Inkretin-Mimetikum kardiovaskuläre Mortalität und Gesamtmortalität reduziert hatten.
Bei Diabetes-Patienten mit Hypertonie (und ohne Albuminurie) sind ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorantagonisten, Thiaziddiuretika oder Kalziumkanalblocker als Antihypertensiva möglich.
Bessere Prävention und Behandlung krankheitsbedingter Komplikationen
Ein wichtiges Ziel der Leitlinie ist die Verbesserung der Lebensqualität von Diabetes-Patienten. Sie enthält z.B. Empfehlungen zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen über eine bessere Glukosekontrolle und eine medikamentöse Therapie mit Pregabalin und Duloxetin.
Hochrisikopatienten, Patienten mit einem hohen Risiko für ein diabetisches Fußulkus, insbesondere solche mit schwerer Neuropathie, Fußdeformationen oder Amputationen in der Vorgeschichte sollten spezielle Diabetiker-gerechte Schuhe tragen.
Aufklärung und psychologische Unterstützung für Kinder und Jugendliche
Diabeteskranke Kinder und Jugendliche können durch die Erkrankung in besonderer Weise belastet sein. In diesem Fall sollten sie psychologische Unterstützung erhalten.
Aufgrund des Risikos für fetale Missbildungen bei ungeplanten Schwangerschaften und schlechter metabolischer Kontrolle wird zudem empfohlen, Mädchen mit Beginn der Pubertät entsprechend zu beraten.
Diabetes und Schwangerschaft
Frauen mit bereits existierenden Typ-1- oder Typ-2-Diabetes, die planen schwanger zu werden oder bereits schwanger sind, sollten über das Risiko einer Verschlechterung einer Retinopathie während der Gravidität aufgeklärt werden. Die Empfehlung zur Blutdruckeinstellung bei schwangereren Patientinnen mit Diabetes und Hypertonie wurde dahingehend geändert, dass ihr systolischer Blutdruck in einem Zielbereich von 120 bis 160 und der diastolische Wert bei 80 bis 105 mmHg liegen sollten.
Insulin ist der Leitlinie zufolge bei schwangeren Frauen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes die Therapie der Wahl, da unklar ist, inwiefern Metformin und Glibenclamid sich in der Plazenta und im Nabelschnurblut anreichern.
Fazit: Kleine Anpassungen, aber keine Innovationen
Insgesamt enthält die aktuelle Version der ADA nach Einschätzung von Müller-Wieland keine markanten Neuerungen. „Zunächst einmal sind dies Empfehlungen (Standards of Medical Care, zuvor hießen sie Clinical Recommendations) und keine Leitlinien“, so der Experte. „Begrüßenswert ist, dass diese jährlich ein Update erhalten, um neue Studien mit einzubeziehen. Insofern gibt es immer viele kleine Modifikationen und Änderungen, aber keinen wesentlichen ‚Federstreich‘.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: US-Diabetes-Gesellschaft aktualisiert ihre Empfehlungen: Modifikationen bei Stadien-Einteilung und Therapien - Medscape - 24. Jan 2017.
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