„Penicillin-Allergie“ ist in 9 von 10 Fällen keine – Hauttest erspart Wechsel auf teils gefährlichere Reserve-Antibiotika

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

23. Januar 2017

Vor allem in der Klinik, aber auch bei Niedergelassenen gehört die Situation zum Alltag: Patienten geben anamnestisch eine Penicillin-Allergie an und erhalten ein Reserveantibiotikum ­– das jedoch in den meisten Fällen überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Auf diese Problematik weisen kanadische Infektiologen in der Online-Ausgabe von JAMA Internal Medicine hin [1].

Im dort geschilderten Fall erhielt eine Schwangere kurz vor einer geplanten Sectio Clindamycin statt eines Cephalosporins, da in der Patientenakte „Penicillin-Allergie“ notiert war. 2 Wochen nach der komplikationsfreien Entbindung hatte sich bei der jungen Mutter eine Clostridium-difficile-assoziierte Diarrhoe eingestellt. Trotz Vancomycin-Einnahme über 14 Tage kehrte die Diarrhoe nach weiteren 3 Wochen zurück. Erst die stationäre Behandlung mit einer neuerlichen oralen Vancomycin-Gabe über 14 Tage beseitigte letztlich die Beschwerden.

Vage Beschreibung eines „roten Ausschlags“

 
Hierzulande ist davon auszugehen, dass höchstens 10 bis 20 Prozent der anamnestisch genannten Penicillin- bzw. β-Lactam-Allergien solche sind (…). Prof. Dr. Knut Brockow
 

Als die Ärzte die Patientin genauer zu ihrer Allergie-Vorgeschichte befragten, konnte sie sich an keine Sofortreaktion auf Penicillin erinnern. Vielmehr beschrieb sie vage, als Kind bei einer Amoxicillin-Behandlung einen roten Ausschlag entwickelt zu haben.

Der Fall demonstriert den kanadischen Autoren zufolge den übermäßigen Gebrauch von Reserveantibiotika als Resultat einer von Patienten berichteten, aber in der Realität bei 80 bis 90% nicht vorhandenen Penicillin-Allergie. Als bedenklich werden die möglichen Nachteile und Risiken der Penicillin-Alternativen angesehen, besonders: höhere Arzneimittelkosten, mehr toxische Wirkungen und das Fördern von Resistenzen.

Mehr als 80 Prozent der Allergien nicht nachweisbar

„Auch hierzulande ist davon auszugehen, dass höchstens 10 bis 20 Prozent der anamnestisch genannten Penicillin- bzw. β-Lactam-Allergien tatsächlich solche sind und sich mit einem Haut- oder Provokationstest nachweisen lassen“, bestätigt der Allergologe Prof. Dr. Knut Brockow vom Klinikum rechts der Isar der TU München im Gespräch mit Medscape. Bei Befragungen in Europa hätten rund 8% aller Erwachsenen eine Arzneimittelallergie angegeben, wobei am häufigsten eine Allergie auf Penicillin bzw. andere β-Lactam-Antibiotika wie Cephalosporine genannt werde.

Typ-I-Reaktion insbesondere gegen Cephalosporine

„Werden dabei vom Patienten Sofortreaktionen wie Urtikaria bis hin zur Anaphylaxie innerhalb einer Stunde nach Einnahme des β-Lactam-Präparats beschrieben, bestehen natürlich kaum Zweifel an einer IgE-vermittelten Typ-I-Allergie“, so Brockow. Solche allergischen Reaktionen vom Soforttyp lassen sich aber, so die Erfahrung des Münchner Allergologen, mittlerweile öfter gegen Cephalosporine als gegen Penicilline nachweisen: „Die häufigsten Sofortreaktionen sehen wir bei dem in Deutschland besonders stark verbreiteten Cefuroxim.“

 
Längst nicht jeder Patient kann rückblickend eine Urtikaria von einem als Spätreaktion auftretenden makulopapulösen Exanthem unterscheiden. Prof. Dr. Knut Brockow
 

Bei Unklarheit Haut- oder Provokationstest

Bei allen Patienten jedoch, die keine eindeutigen Angaben zu ihrer Arzneimittelallergie machen können, empfiehlt Brockow zur Klärung einen Hauttest, eventuell zusätzlich noch einen Provokationstest: „Längst nicht jeder Patient kann rückblickend eine Urtikaria richtig von einem als Spätreaktion auftretenden makulopapulösen Exanthem unterscheiden.“

Bestätigt der Hauttest nur eine Spätreaktion etwa auf Amoxicillin oder Ampicillin, dann sei bei erneuter Gabe des Antibiotikums im Regelfall auch wieder nur mit einem verzögert auftretenden Exanthem zu rechnen und es bestehe kein gesteigertes Risiko für eine Anaphylaxie.

Eine vorschnelle Verordnung von Reserveantibiotika – nur weil in der Patientenakte irgendwo der Begriff Penicillin-Allergie steht – ist besonders Infektiologen ein Dorn im Auge: „Oft geht sie lediglich auf anekdotische Angaben der Patienten zu einem Hautausschlag nach Tabletteneinnahme zurück, die vielleicht vom damals behandelnden Arzt als Penicillin-Allergie bezeichnet wurde, ohne dass jemals ein qualifizierter Allergietest vorgenommen wurde“, sagt PD Dr. Jörg-Janne Vehreschild vom Universitätsklinikum Köln.

Reserveantibiotika fördern Resistenzen

Auch wenn die Penicillin-Allergie meist nicht eindeutig belegt ist, werden dem Kölner Infektiologen zufolge vielfach extrem breit wirkende Reserveantibiotika wie Carbapeneme verordnet. Sie sollten eigentlich nur bei ausgewählten Patienten bzw. auf Intensivstationen zum Einsatz kommen: „Denn es ist bekannt, dass die zweifellos effektiven Breitspektrum-Antibiotika auch hochresistente gefährliche Erreger selektieren und die Rate von Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhoen erhöhen.“

 
Meist betrifft die Allergie nur bestimmte Molekül-Seitenketten eines Wirkstoffs. Der wird gesperrt, andere Penicilline oder ß-Lactam-Antibiotika können gegeben werden. Prof. Dr. Knut Brockow
 

So bedeutet die Schädigung der natürlichen Darmflora durch diese Medikamente ein größeres Risiko für nosokomiale Infektionen: „Dieses Risiko“, gibt Vehreschild zu bedenken, „steigt, je breiter das Antibiotikum wirkt.“ Für ihn sind rein anekdotische Allergien ohne Hinweise auf schwere allergische Reaktionen daher im stationären Bereich kein Grund, Penicillin-Präparate zu ersetzen.

Testung ohne Zeitdruck im Intervall

Ist ein in einer Akutsituation vorgenommener Hauttest negativ, so Allergologe Brockow, könne eine allergische Reaktion zwar nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden, es sei dann aber zumindest nicht mit lebensbedrohlichen Reaktionen zu rechnen. Komfortabler ist die Situation im Intervall, wenn ein Antibiotikum nicht sofort gegeben werden muss: „Hier lässt sich ohne Zeitdruck im Intervall mittels Haut- und Provokationstest prüfen, auf welche speziellen Penicillin bzw. ß-Lactam-Präparate der Patient gegebenenfalls allergisch reagiert. Denn meist betrifft die Allergie nur bestimmte Molekül-Seitenketten eines Wirkstoffs ­– dieser wird dann gesperrt, andere Penicilline oder ß-Lactam-Antibiotika können aber durchaus gegeben werden.“

Virus- und Arzneimittelexantheme

Makulöse und makulopapulöse Exantheme können durch Arzneimittel hervorgerufen werden (Arzneimittelexanthem) oder – häufiger – eine infektallergische Genese haben. Auslöser sind dann meist virale Erkrankungen wie Masern, Mumps, Röteln und Windpocken, aber auch Rhinoviren können dahinter stecken (Virusexanthem).

 
Eine echte Penicillin-Allergie, die den Namen verdient, ist bei Kindern extrem selten. Prof. Dr. Reinhard Berner
 

So handelt es sich bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der von Patienten anamnestisch angegebenen allergischen Reaktionen auf Arzneimittel in Wirklichkeit um Abwehrreaktionen auf die Erkrankungen selbst, bei deren Behandlung die entsprechenden Arzneimittel bzw. Antibiotika eingesetzt wurden. Brockow ist davon überzeugt, dass die meisten der 80 bis 90% nur angenommenen, aber nicht reproduzierbaren β-Lactam-Allergien einen derartigen Hintergrund haben.

Label „Penicillin-Allergie“ besonders oft im Kindesalter

Vor allem fieberhafte Infektionen bei Kindern werden häufig mit ß-Lactam-Antibiotika therapiert, besonders wenn – wie oft im Praxisalltag – nicht zweifelsfrei erkennbar ist, ob es sich z.B. bei einer Otitis media oder Bronchitis um einen viralen oder einen bakteriellen Infekt handelt.

„Eine echte Penicillin-Allergie,die den Namen verdient, ist bei Kindern allerdings extrem selten“, betont Prof. Dr. Reinhard Berner, Dresden, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, im Gespräch mit Medscape: „Die meisten Kinder, die dieses Label bekommen, haben während einer Antibiotikatherapie lediglich ein Exanthem oder als Unverträglichkeitsreaktion auf das Medikament Durchfälle, Bauchschmerzen oder Erbrechen entwickelt, ohne dass es sich hierbei um allergische Reaktionen handelt.“

Kinder etwa, die im Rahmen einer Epstein-Barr-Virusinfektion Ampicillin oder Amoxicillin erhalten, entwickeln Berner zufolge in über 95% der Fälle einen Hautausschlag, der als Vaskulitis interpretiert werde: „Das Exanthem ist dann eine Reaktion auf die Virusinfektion plus Antibiotikum, hat aber mit einer Allergie im Grunde nichts zu tun.“

 
Das Label ‚Penicillin-Allergie‘ wird nach wie vor viel zu schnell an Patienten vergeben und dabei oft nicht an die Konsequenzen gedacht. Prof. Dr. Knut Brockow
 

Nach Ansicht des Dresdener Pädiaters sind die im Kindes- und Jugendalter mit Antibiotika behandelten viralen Erkrankungen sogar der häufigste Grund dafür, dass so viele Erwachsene – fälschlicherweise ­– das Label „Penicillin-Allergie“ tragen.

Allergische Reaktion kann mit den Jahren verschwinden

Selbst echte, IgE-vermittelte Arzneimittelallergien können jedoch mit der Zeit auch von selbst wieder verschwinden: Einem Expertenkommentar der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zufolge reagieren etwa 80% der Patienten mit nachgewiesener IgE-vermittelter Penicillin-Allergie 10 Jahre nach ihrer ersten Reaktion nicht mehr empfindlich auf das ursprüngliche Allergen. Was die CDC-Experten bei der Anamnese und Untersuchung von Patienten mit einem Allergielabel für sinnvoll halten, ist in einem Penicillin-Factsheet der CDC zusammengefasst.

Die Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI) ist Brockow zufolge gerade dabei, eine Leitlinie für β-Lactam-Allergien zu erstellen. Zu diskutieren ist nach Meinung des Allergologen, inwieweit Pädiater, Internisten und andere Ärzte nicht kritischer mit dem Label Penicillin-Allergie umgehen sollten: „Denn dieses Label wird nach wie vor viel zu schnell an Patienten vergeben. Dabei wird oft nicht an die Konsequenzen gedacht.“ Abhilfe könnte eine Intensivierung allergologischer Weiterbildungsangebote für Nicht-Allergologen schaffen.

 
Deshalb sollte jeder ein Interesse haben zu wissen, ob er gegen eines von ihnen wirklich allergisch ist oder nicht. PD Dr. Jörg-Janne Vehreschild
 

Großes Einsparpotenzial bei Breitspektrumantibiotika

In welchem Umfang Allergietests dazu beitragen können, Breitspektrumantibiotika einzusparen, wurde in einer US-Studie untersucht: Dabei ergab die Testung von 252 Krankenhauspatienten mit dem Label Penicillin-Allergie, dass dieses bei 223 (88,5%) von ihnen unzutreffend war. In der Folge wurde ihre Therapie von Reserveantibiotika auf ein Penicillin oder Cephalosporin umgestellt. Damit wurden fortan 34% weniger Vancomycin, 61% weniger Clindamycin, 68% weniger Aztreonam, 50% weniger Carbapeneme und 36% weniger Fluorchinolone verbraucht.

Eine Hauttestung im Intervall empfiehlt Infektiologe Vehreschild generell allen Menschen mit anekdotischer, aber nicht gesicherter Penicillin-Allergie: „Penicilline bzw. β-Lactam-Antibiotika sind oft Medikamente der ersten Wahl und werden auch in vielen akuten Situationen eingesetzt. Deshalb sollte jeder ein Interesse haben zu wissen, ob er gegen eines von ihnen wirklich allergisch ist oder nicht.“ Der Test sollte möglichst durch einen Allergologen erfolgen – für medizinisch indizierte Allergiediagnostik erstatten gesetzliche wie private Krankenversicherungen grundsätzlich die Kosten.

 

REFERENZEN:

1. Vaisman A, et al. JAMA Intern. (online) 03. Januar 2017

 

Kommentar

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