Stress und Herzschäden: Erstmals genauer Mechanismus identifiziert – „Eine phantastische Studie mit hoher klinischer Relevanz“

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

16. Januar 2017

Erstmals haben Forscher am Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School in Boston einen Mechanismus gefunden, der zeigt, wie Stress das Herz schädigen kann: In einer prospektiven Studie mit 293 Patienten konnten sie detailliert demonstrieren, wie eine stressbedingt verstärkte Aktivität der Amygdala mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergeht [1].

„Unsere Ergebnisse liefern eine einzigartige Erklärung dafür, wie Stress zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann“, erklärt Dr. Ahmed Tawakol, Leiter des Autorenteams aus Boston. Jetzt wisse man, dass es möglich sei, „durch eine Stressminderung über das psychologische Wohlbefinden hinaus weitere Vorteile zu erzielen, nämlich eine Verbesserung des atherosklerotischen Milieus.“

Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig

Stress im Hirn – Stress im Herz?

„Eine phantastische Studie mit extrem hoher klinischer Relevanz“, lobt Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU und Institut für Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum in München, im Gespräch mit Medscape. „In der Psychokardiologie wird das Limbische System schon sehr lange hinsichtlich des Zusammenhangs von emotionalem Stress und Herzkrankheiten untersucht”, erklärt der Leiter der Arbeitsgruppe internistische Psychosomatik/Psychokardiologie an der TU. Dass es diese Verbindung gebe, wisse man schon lange; die konkreten Pathways und Mechanismen dahinter waren bislang unklar. „Die aktuelle Studie zeigt wunderbar, wie zentralnervöse Strukturen direkte Effekte auf Arterien und das Herz haben“, bemerkt Ladwig, der 2013 als leitender Autor des Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) zur Bedeutung psychosozialer Faktoren in der Kardiologie war.

Dr. Heribert Brück

„Wir sind bisher davon ausgegangen, dass über die Hypophysen-Nebennieren-Schiene durch ACTH, Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin, aber auch Endothelin, ICAM-1 und NF-kappaB, eine endotheliale Dysfunktion und im weiteren Verlauf die Arteriosklerose entsteht”, erklärt Dr. Heribert Brück, niedergelassener Kardiologe in Erkelenz und Sprecher des Bundesverbands Niedergelassener Kardiologen. Außerdem werden durch Stress Blutviskosität und Plättchenfunktion beeinträchtigt.

Ein Zusammenhang zwischen Stress und erhöhter Aktivität im Knochenmark und in den Arterien sei bislang nur in Tierstudien nachgewiesen, schreiben die US-Autoren im Lancet. Ob diese Verbindungen auch beim Menschen bestehen, sei bislang nicht untersucht worden. Die Amygdala (Mandelkern) ist Teil des Limbischen Systems und steuert etwa Furcht und Aggressionen. Bei Krankheiten, bei denen Menschen unter Stress leiden, etwa beim posttraumatischen Stresssyndrom oder bei einer Depression, steigt die Stoffwechselaktivität der Amygdala.

Um herauszufinden, ob die Stoffwechselaktivität der Amygdala in Ruhe die hämatopoetische Aktivität und die arterielle Inflammation beeinflusst und auf künftige kardiovaskuläre Ereignisse hindeuten kann, haben Tawakol und Kollegen 2 Studien vorgenommen. In einer prospektiven Untersuchung wurde bei 293 Patienten ohne bekannte kardiovaskuläre Erkrankungen (Mindestalter: 30; Durchschnittsalter 55 Jahre) ein kombinierter 18F-Fluorodeoxyglukose-PET/CT-Scan durchgeführt, um den Stoffwechsel der Amygdala, Aktivitäten in Knochenmark und Milz sowie die Entzündungsvorgänge in den Arterien aufzuzeichnen. Während eines Follow-up von durchschnittlich 3,7 Jahren traten bei 22 Patienten insgesamt 39 kardiovaskuläre Ereignisse auf, unter anderem Myokardinfarkt, Angina pectoris, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und periphere Gefäßerkrankungen.

 
Eine phantastische Studie mit extrem hoher klinischer Relevanz. Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig
 

Prospektive Studie: Der Weg führt übers Knochenmark

Die Aktivität der Amygdala konnte das Risiko künftiger kardiovaskulärer Ereignisse „zuverlässig voraussagen“ schreiben die Autoren (Hazard Ratio (HR) 1,6). Dieser Zusammenhang blieb auch nach multivariablen Anpassungen an andere kardiovaskuläre Risikofaktoren signifikant. „Diejenigen mit einer stärkeren Amygdala-Aktivität hatten ein höheres Krankheitsrisiko und bekamen früher Probleme als diejenigen mit weniger Stoffwechsel-Aktivität in dieser Hirnregion“, berichtet die Forschergruppe.

Die Scans der Teilnehmer zeigten außerdem, dass eine erhöhte Aktivität in der Amygdala mit vermehrter Knochenmarksaktivität und verstärkter Entzündung der Arterien einherging. Diese Zusammenhänge, schlussfolgern die Autoren, können das erhöhte kardiovaskuläre Risiko der Patienten erklären. Der zugrunde liegende Mechanismus: Die Amygdala signalisiere dem Knochenmark mehr weiße Blutkörperchen zu produzieren, die wiederum eine Plaque-Bildung in den Arterien verursachen, was zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen könne, erklären die US-Forscher.

Dass sich die Amygdala bei Stress vergrößere und eine „Schaltstation” darstelle, habe sich bereits in Studien gezeigt, berichtet auch Kardiologe Brück. Ebenfalls sei bekannt, dass Entzündungsfaktoren durch Stress getriggert werden können. „Dass aber das Knochenmark in dieser Kette eine Rolle spielt, ist neu”, betont er gegenüber Medscape. Bislang, so vermutet er, wurde die Rolle des Knochenmarks bei der Arteriosklerose-Entstehung unterschätzt.

Querschnittsstudie: Mehr Stress – mehr Amygdala-Aktivität – mehr Inflammation

 
Die aktuelle Studie zeigt wunderbar, wie zentralnervöse Strukturen direkte Effekte auf Arterien und das Herz haben. Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig
 

In einer zweiten kleinen Sub-Studie bewerteten 13 Patienten mit posttraumatischem Stresssyndrom ihren Stress-Level auf einer validierten 10-Punkte-Stress-Skala (PSS-10). Auch bei ihnen wurden Amygdala-Aktivität und arterielle Entzündungen per PET-Scan sowie C-reaktives Protein (CRP) gemessen.

Das Ergebnis: Diejenigen, die den meisten Stress empfanden, zeigten auch die stärkste Amygdala-Aktivität. Zudem wiesen sie höhere Entzündungsparameter der Blutgefäße auf als weniger gestresste Probanden. „Die Amygdala ist die entscheidende neuronale Struktur hinsichtlich des Auftretens künftiger kardiovaskulärer Ereignisse“, schlussfolgern Tawakol und Kollegen. „Dass die Amygdala-Aktivität mit Entzündungsprozessen assoziiert ist, ist eine spannende und außergewöhnliche Erkenntnis“, kommentiert Ladwig. 

 
Dass aber das Knochenmark in dieser Kette eine Rolle spielt, ist neu. Dr. Heribert Brück
 

Stress als „echten“ Risikofaktor anerkennen und behandeln

In den vergangen 20 Jahren sei die Zahl der Menschen, die unter permanentem Stress leiden, deutlich gestiegen – durch hohe Arbeitsbelastung, Angst vor Arbeitslosigkeit, Armut und andere Umstände, sagt Dr. Ilze Bot vom Akademischen Zentrum für Arzneimittelforschung an der Universität Leiden in den Niederlanden, in einem Editorial zur Harvard-Studie [2]. „Diese klinischen Daten etablieren eine Verbindung zwischen Stress und kardiovaskulärer Erkrankung und identifizieren chronischen Stress als tatsächlichen Risikofaktor für das akute Koronarsyndrom“, schreibt sie.

 
Die Amygdala ist die entscheidende neuronale Struktur hinsichtlich des Auftretens künftiger kardiovaskulärer Ereignisse. Dr. Ahmed Tawakol
 

Angesichts der großen Zahl Betroffener könne chronischer Stress in die Risikostratifizierung in den kardiologischen Praxen und Kliniken mit eingeschlossen werden. Da die Querschnittsuntersuchung nur 13 Patienten umfasste, seien größere Studien mit längerem Follow-up notwendig, „um das kardiovaskuläre Risiko bei Patienten mit posttraumatischem Stresssyndrom direkt zu beziffern“, bemerkt Bot.

„Vielleicht wird es möglich sein, die negativen Auswirkungen von Stress auf der Knochenmarksebene zu stoppen“, sagt Brück. „Die Arbeit hat jedoch gezeigt, dass es vorrangig darum gehen muss, durch geeignete mentale Strategien die Stressentstehung zu vermeiden und damit das Übel an der Wurzel zu packen”, so sein Ansatz. In den offiziellen Risiko-Scores komme Stress bislang nicht vor, trotz der bekannten negativen Folgen. „Weil sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten das Bewusstsein oder die Kenntnis oft fehlen, dass man präventiv tätig werden kann, wird Stressmanagement zu selten praktiziert.”

Dabei beziehe sich Stress als Risikofaktor weniger auf akute Extrembelastungen als vielmehr auf „chronischen, zermürbenden Stress“, sagt Ladwig. „Im Alltag verliert sich aber das Bewusstsein für die physischen Gefahren von Stress.“ Daher seien psychokardiologische Studien wie die aktuelle Untersuchung „so wichtig, um diesen Risikofaktor zu etablieren.“

 

REFERENZEN:

1. Tawakol A, et al: Lancet 2017 (online) 11. Januar 2017

2. Bot I, et al: Lancet 2017 (online) 11. Januar 2017

 

Kommentar

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