Meinung

Experten-Interview: Lässt sich die Appendektomie bei akuter Appendizitis durch Antibiose vermeiden?

Teresa Nauber

Interessenkonflikte

16. Januar 2017

Dr. Julian Harnoß

In der Therapie der akuten Appendizitis ist die Appendektomie seit mehr als 100 Jahren der Goldstandard. Doch seit einigen Jahren mehren sich Studien vor allem aus Skandinavien, die zeigen, dass die Behandlung mit Antibiotika einen großen Teil dieser Operationen vermeiden könnte. Dr. Julian Harnoß und Kollegen am Studienzentrum der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (SDGC) an der Uniklinik Heidelberg haben acht dieser Studien unter die Lupe genommen [1]. Sie sagen: Die chirurgische, genauer die laparoskopische, Appendektomie sollte nach derzeitiger Datenlage Standardtherapie bleiben. Im Interview mit Medscape erklärt der Erstautor der Studie, Dr. Harnoß, warum er das so sieht.

Medscape: Herr Dr. Harnoß, wenn Sie selbst eine akute Appendizitis hätten – würden Sie sich operieren lassen oder es mit Antibiotika versuchen?

Dr. Harnoß: Das kommt ganz darauf an. Hier in Deutschland würde ich mich auf jeden Fall operieren lassen. Aber wenn ich eingeschneit im Basecamp am Himalaja festsäße, würde ich wohl Antibiotika vorziehen.

Medscape: Steigt denn die Nachfrage nach antibiotischer Therapie seitens der Patienten?

Dr. Harnoß: Die Menschen verbinden in Deutschland die akute Appendizitis mit der Operation und fragen momentan eher nicht nach Alternativen. Dass die Antibiose so eine Alternative sein könnte, ist aber auch noch nicht so bekannt. Da die Medien das Thema sehr vorantreiben, könnte sich das ändern.

Medscape: In Ihrem Review kommen Sie zu dem Schluss, dass die Appendektomie Goldstandard bleiben sollte. Sie schreiben aber, dass 72 Prozent derer, die mit Antibiotika behandelt wurden, binnen eines Jahres nicht operiert werden mussten. Heißt das nicht, dass 72 Prozent der Operationen unnötig wären?

 
Deutsche verbinden die akute Appendizitis mit der Operation und fragen momentan eher nicht nach Alternativen.
 

Dr. Harnoß: 72 Prozent der Patienten kann man den Studien, die wir untersucht haben, zufolge antibiotisch behandeln. Wir haben uns in unserem Systematic Review aber auch die Studienqualität angesehen und sehen da gravierende Probleme.

Medscape: Nämlich?

Dr. Harnoß: Die Diagnostik einer akuten Appendizitis erfolgt in Deutschland klinisch, das heißt der Patient wird untersucht, bekommt eine Laborabnahme und in der Regel auch einen Ultraschall. In den Studien wurde in 50 Prozent der Fälle ein CT des Abdomens durchgeführt. Man wollte die Diagnose mit möglichst hoher Sensitivität und Spezifität sichern. Patienten, die einen Appendix-Stein hatten oder ein Malignom, wurden primär ausgeschlossen und nicht antibiotisch behandelt. Daraus können wir für unsere Patienten, bei denen gar kein CT durchgeführt wird, also nicht schlussfolgern, dass die antibiotische Therapie in 72 Prozent der Fälle erfolgreich ist. Immerhin in einem Prozent der Fälle liegt ein Malignom vor – und das würden wir dann antibiotisch behandeln und einen Progress der Erkrankung riskieren.

Medscape: Warum wird denn in Deutschland kein CT durchgeführt, um so etwas auszuschließen?

Dr. Harnoß: Wegen der hohen Strahlenbelastung sind wir in Deutschland zu Recht bemüht, das CT zu vermeiden. Patienten dieser Strahlenbelastung auszusetzen, um eine akute Appendizitis zu diagnostizieren bzw. andere Erkrankungen auszuschließen, wäre aus meiner Sicht unverantwortlich.

Medscape: Wie sicher ist die Appendektomie denn heute?

Dr. Harnoß: Auch das haben wir uns im Review genau angesehen. Wenn man alle Formen der postoperativen Komplikationen mit einbezieht, also z.B. auch eine Peritonitis, kommen wir in den untersuchten Studien auf eine Komplikationsrate von 7-8 Prozent. Dazu muss man aber sagen, dass überraschenderweise zwei Drittel der Patienten in den Studien offen chirurgisch operiert wurden. Heutzutage operieren wir in Deutschland aber laparoskopisch und die Laparoskopie ist verbunden mit einer deutlich geringeren Morbiditätsrate. Das heißt, die Komplikationsrate bei einer laparoskopischen Appendektomie liegt mit Sicherheit deutlich unter diesem Wert.

Medscape: Das lebenslange Risiko für eine Appendizitis liegt bei 6,8 bis 8,9 Prozent. Verändert sich dieses Risiko nach einer Antibiotikatherapie?

 
Wir haben uns auch die Studienqualität angesehen und sehen da gravierende Probleme.
 

Dr. Harnoß: Nein. Antibiotisch behandelte Patienten mit Appendizitis behalten dieses Risiko. Wir wissen nicht, ob die Krankheit später rezidiviert oder nicht. In den Studien gab es nur ein Follow-up von einem Jahr. Was also nach diesem Jahr nach primärer Behandlung geschieht, wissen wir nicht. Gesichert ist nur: Wenn wir den Blinddarmfortsatz entfernen, dann ist er weg und kann sich demnach auch nicht mehr entzünden.

Medscape: Welche Risiken hat die Antibiotikatherapie?

Dr. Harnoß: Wenn Patienten nach Antibiotikatherapie binnen eines Jahres bei gleichen Beschwerden operiert werden mussten – und das waren ja immerhin 28 Prozent aller antibiotisch behandelten Patienten –, hatten diese ein zweifach erhöhtes Risiko für eine komplizierte Appendizitis. Sie mussten oft erneut stationär aufgenommen werden, das heißt die Gesamt-Krankenhausaufenthaltsdauer war höher, so dass auch die Kosten höher gewesen sein dürften.

Was wir nach aktueller Datenlage noch nicht wissen, ist, wie sich die Patienten fühlen. Die Lebensqualität wurde bei den mit Antibiotika behandelten Patienten bisher nie erfasst. Bei operierten Patienten wissen wir zumindest nach einer Laparoskopie, dass sie in der Regel nach zwei oder drei Tagen wieder fit sind und spätestens nach einer Woche wieder arbeiten können.

Medscape: Wie sieht denn die Standard-Antibiotikatherapie in so einem Fall aus?

Dr. Harnoß: In den Studien wurde dies völlig unterschiedlich gehandhabt. Es wurden unterschiedliche Antibiotika verwendet, sie wurden teilweise oral appliziert, teilweise intravenös. Die Dauer variierte zwischen einem Tag und zwei Wochen. Es waren auch Antibiotika dabei, die zu den Reserveantibiotika gehören – die also nur im äußersten Notfall verwendet werden sollten.

 
Wir wissen nicht, ob die Krankheit später rezidiviert oder nicht.
 

Man muss ohnehin mit bedenken, dass Breitbandantibiotika Resistenzen fördern. Wir wissen nach einem aktuellen Bericht der KRINKO (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert Koch Instituts), dass die Zahl der resistenten E. coli-Erreger in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist.

Medscape: Würden Sie nach dem Review der vorhandenen Studien Kollegen dazu raten, Patienten auch eine Antibiotika-Therapie anzubieten?

Dr. Harnoß: Ich würde dem Patienten immer die Behandlung anbieten, die ich für die beste halte. Für mich ist die chirurgische Behandlung derjenigen mit Antibiotika klar überlegen: Die Erfolgsquote liegt bei nahezu 100 Prozent im Vergleich zu 72 Prozent bei der Behandlung mit Antibiotika. Die Operation verläuft normalerweise komplikationslos und sichert eine hohe Lebensqualität nach dem Eingriff. Eine solche Behandlung zugunsten einer Antibiotikatherapie, die ja wieder andere Risiken mit sich bringt, zu vermeiden, halte ich nur bei Patienten mit einem besonderen Risikoprofil für angezeigt. Das sind multimorbide Patienten oder Patienten mit diversen Vor-Operationen, wo eine erneute Operation ein erhöhtes Risiko darstellt. In solchen Fällen kann man eine Antibiotikatherapie diskutieren und dann gemeinsam mit dem Patienten entscheiden. Wichtig ist immer, dass man – wenn man eine Antibiotikatherapie anbietet – den Patienten auch über die Risiken, Vor- und Nachteile dieser Therapie aufklärt.

Medscape: Nicht jeder Patient geht ja mit Bauchschmerzen gleich ins Krankenhaus. Was, wenn Patienten zuerst zu Ihrem Hausarzt gehen? Was raten Sie den Kollegen?

Dr. Harnoß: Meine Sorge ist, dass niedergelassene Kollegen aufgrund der aktuellen Datenlage Patienten mit akuter Appendizitis bereits antibiotisch behandeln und dabei nicht berücksichtigen, welche Schwächen die aktuellen Studien haben. Die Gefahr, dass Patienten, die eine komplizierte Appendizitis haben oder bei denen die Ursache der Beschwerden eine andere ist (z.B. ein Malignom), falsch behandelt werden, ist dann besonders groß.  

Medscape: Da die vorhandenen Studien einige Schwächen aufweisen: Braucht es eine neue Studie mit besserem Design, um die Frage, ob Antibiotika eine echte Alternative zur Appendektomie sein können, zu klären?

 
Für mich ist die chirurgische Behandlung derjenigen mit Antibiotika klar überlegen.
 

Dr. Harnoß: Unbedingt. Es müsste eine multizentrische, prospektiv randomisierte Studie sein, die vor allem folgendes klärt: Wie sieht die Lebensqualität von mit Antibiotika behandelten Patienten während und nach der Therapie aus? Wie häufig sind operative Komplikationen bei den Patienten, die ein Therapieversagen der Antibiose erleiden – im Vergleich zu den sofort operierten? Welche Nebenwirkungen hat die antibiotische Behandlung? Wie lange liegen die Patienten insgesamt im Krankenhaus, inklusive der Wiederaufnahmen?

Es müssen unbedingt Patienten eingeschlossen werden, bei denen der Verdacht auf eine akute, unkomplizierte Appendizitis besteht und nicht solche, die eine, mittels CT-Untersuchung gesicherte, akute Appendizitis haben – die Studie muss die Behandlungs-Realität abbilden. Und schließlich sollte das Follow-up nach einem Jahr stattfinden, mit der Option eines Langzeit-Follow-up zum Beispiel nach 3 Jahren.

 

REFERENZEN:

1. Harnoss JC, et al: Annals of Surgery, 17. Oktober 2016.

Kommentar

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