Hausarztzentrierte Versorgung: Friedliches Nebeneinander von Kollektiv- und Selektivverträgen?

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

13. Januar 2017

17.000 Hausärzte nehmen in Deutschland zu Beginn des Jahres 2017 an der hausarztzentrierten Versorgung (HzV) in Form von Selektivverträgen mit den Krankenkassen teil, vermeldet der Deutsche Hausärzteverband.

Rund 4,2 Millionen Versicherte haben sich verpflichtet, immer zunächst zu ihrem Hausarzt zu gehen, der dann die Versorgung strukturiert und nach Bedarf an andere Ärzte überweist. Dies entspricht laut Hausarztverband einer Steigerungsrate von etwa 10%. „Es gab in Deutschland noch nie einen Selektivvertrag, der auch nur annähernd so erfolgreich war, wie die HzV und das, obwohl wir nach wie vor von einigen Krankenkassen und KVen massiv behindert werden“, zeigt sich der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes Ulrich Weigeldt stolz [1].

KBV will friedliches Nebeneinander von Kollektiv- und Selektivverträgen

Roland Stahl

© Lopata/axentis.de

Die KBV weist indes den Vorwurf Weigeldts, eine Blockadepolitik zu betreiben, zurück. „Wir haben uns in unserem KBV-Papier 2020 auf ein friedliches Nebeneinander von Kollektivverträgen und Selektivverträgen geeinigt“, betont KBV-Sprecher Roland Stahl gegenüber Medscape.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach

Quelle: Michael Fuchs

Ob die vom Hausärzteverband vermeldete Zahl als groß oder klein betrachtet wird, liege an der Perspektive, meint Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bezogen auf alle rund 70 Millionen Patienten in der GKV-Versicherung sei sie noch nicht sehr groß. Wenn man es jedoch auf die Gesamtentwicklung beziehe, gebe es in der HzV so viele eingeschriebene Versicherte und Hausärzte wie noch nie.

Neben Baden-Württemberg und Bayern, wo die Hausarztverträge bereits seit vielen Jahren flächendeckend umgesetzt werden, haben sich auch in Nordrhein-Westfalen inzwischen über 600.000 Versicherte eingeschrieben, so der Deutsche Hausärzteverband. „Die HzV ist die größte Innovation für Hausärzte und Patienten in den letzten Jahren.“

 
Die HzV ist die größte Innovation für Hausärzte und Patienten in den letzten Jahren. Deutsche Hausärzteverband
 

Vorteile und Nachteile in der HzV

Im Bundestag wurde schon 2015 gefordert zu klären, ob mögliche Vorteile der HzV deren Nachteile überwiegen. Bei den Krankenkassen sei eine „Ambivalenz“ in der Kommunikation über die Hausarztverträge festzustellen. Gegenüber den Patienten werde die Verbesserung der Versorgungsqualität in den Vordergrund gestellt, gegenüber der Politik die Kostenvorteile, in der der Fachöffentlichkeit beklagten die Krankenkassen jedoch die hohen Kosten der HzV. Die Verbraucherseite kritisiere die mangelnde Transparenz der Angebote, ergab eine Anfrage der Linken im Bundestag.

Kritiker halten dem HzV-Modell entgegen, dass es zu einer Beschränkung der freien Arztwahl führe und auch die Hausärzte mit der komplexen Versorgung fachlich überfordert seien. „Wer sonst sollte den Überblick bei multimorbiden Patienten mit diversen mitbehandelnden Fachärzten und nicht selten mehr als zwölf Medikamenten behalten?“, hält Gerlach entgegen. Es sei ein Missverständnis, dass der Hausarzt die komplette Behandlung übernehmen solle. Es ginge vielmehr um eine strukturierte Versorgung und eine gezielte Koordination, betont er.

 
Wer sonst sollte den Überblick bei multimorbiden Patienten mit diversen mitbehandelnden Fachärzten und nicht selten mehr als zwölf Medikamenten behalten? Prof. Dr. Ferdinand Gerlach und Kollegen
 

Weigeldt sieht eindeutige Vorteile der Selektivverträge mit den Kassen: „Die Entwicklung der HzV in den letzten Jahren zeigt deutlich, dass es bei den Versicherten und den Hausärzten einen großen Bedarf nach dieser besseren Form der Versorgung gibt, die jenseits der maroden Strukturen der KVen umgesetzt wird.“ Auch Krankenkassen könnten Versichertengelder sparen, hebt Weigeldt hervor, da unnötige Doppeluntersuchungen und überflüssige Krankenhauseinweisungen reduziert werden könnten.

Das System der Selektivverträge stellt in dieser Form ein wettbewerbliches Parallelsystem zur KV dar. Fortschritte in der Vergütung seien vor allem auf die HzV zurückzuführen, so der Deutsche Hausärzteverband. Auch befragte Ärzte in der HzV in Baden-Württemberg gaben auf die Frage nach ihrer Teilnahme-Motivation die bessere Honorierung, eine vereinfachte Abrechnung und eine gesundheitspolitische Abkehr beziehungsweise eine Alternative zum KV‐System an. Diese Ergebnisse finden sich in der wissenschaftlichen Evaluation des HZV-Modell in Baden-Württemberg, die Gerlach zusammen mit der Abteilung für Versorgungsforschung der Universität Heidelberg mit Förderung durch den Deutscher Hausärzteverband, MEDI‐Verbund und AOK Baden‐Württemberg mit Daten von 2008 bis 2014 erstellt hat.

Strukturierte Versorgung – Schutz des Patienten vor unnötiger Behandlung

Die Wissenschaftler kamen zu einem insgesamt positiven Ergebnis: „Patienten werden häufiger gesehen und in den Hausarztpraxen intensiver betreut. Es findet zudem eine gezieltere Überweisung an die Fachspezialisten mit einer dezidierten Fragestellung durch den Hausarzt statt. „So kann die Versorgung strukturierter ablaufen und Patienten werden so auch vor zu viel oder unnötigen Behandlung geschützt“, betont Gerlach.

 
Patienten werden häufiger gesehen und in den Hausarztpraxen intensiver betreut. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach und Kollegen
 

Vor allem chronisch kranke Patienten mit koronarer Herzkrankheit oder Herzinsuffizienz sowie Diabetiker profitierten von der HzV gegenüber Patienten, die nicht in der HzV waren. Bei Ersteren traten deutlich weniger schwerwiegende Komplikationen, Nierenschäden, Erblindungen, Fußamputationen, Herzinfarkte und Schlaganfälle auf, so Gerlach. Bei 2 bis 3 von 100 Patienten mit KHK oder Herzinsuffizienz konnten Krankenhauseinweisungen vermieden werden, pro Jahr waren es 3.900 und hochgerechnet auf 4 Jahre damit rund 1.200 bis 16.000 potenziell vermeidbare Einweisungen.

Dass Fachärzte und Hausärzte eng in Baden-Württemberg zusammenarbeiten, hält der Allgemeinmediziner Gerlach für einen weiteren Pluspunkt in der HzV. Hier existierten zudem auch Selektivverträge mit Fachärzten, um die Patienten gezielter zu versorgen, ihnen schneller Termin zu geben und die Abstimmung zwischen Hausarzt und Facharzt zu verbessern.

Ein weiterer Faktor der HzV sei zudem die spezielle Honorierung von Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (VeraH), da sie die Hausärzte entlasteten und auch Routinehausbesuche übernehmen. Hausärzte in der HzV verpflichten sich an strukturierten, datengestützten Qualitätszirkeln teilzunehmen, in denen praxiserprobte Leitlinien behandelt werden und das individuelle Verordnungsverhalten anhand von Verordnungsreports thematisiert wird, wodurch ein intensives Lernen, auch durch Vergleich zwischen den Praxen, ermöglicht werde, so Gerlach.

 
Wir sind weit davon entfernt, dass die KVen durch die Selektivverträge überflüssig werden. Kai Sonntag
 

Keiner soll übervorteilt werden

Gerlach und seine Kollegen untersuchten das HzV-Modell in Baden-Württemberg, unter anderem, weil es dort eine lange Tradition hat. Auch die KV Baden-Württemberg fährt hier einen Kooperationskurs. „Unser Vorstand möchte, dass es ein harmonisches Miteinander von Kollektiv- und Selektivverträgen gibt", sagt Kai Sonntag, Sprecher der KV Baden-Württemberg gegenüber Medscape.

Damit soll vermieden werden, dass es zu Rechtsstreits und Schiedsurteilen kommt. Gefördert werde die HzV im Musterländle Baden-Württemberg stark von der dortigen AOK. Man habe sich auf einen kooperativen Ansatz geeinigt, vor allem, wenn es um die sogenannte Bereinigung geht, erläutert Sonntag. Solche Bereinigungen sollen Doppelfinanzierungen vermeiden.

„Wir haben bei der Bereinigung einen Weg gefunden, mit dem alle leben können, so dass sich keiner übervorteilt sieht“, sagt Kai Sonntag. Eine 100%ig gerechte Lösung für alle könne es nicht geben, dessen seien sich auch alle Akteure bewusst.

Kommt es zu einer Schwächung des KV-Systems durch die starke HzV? „Wir sind weit davon entfernt, dass die KVen durch die Selektivverträge überflüssig werden“, meint Sonntag dazu.

Weigeldt bekräftigte erneut die Forderung des Deutschen Hausärzteverbandes, auch die Versicherten an den finanziellen Vorteilen der HzV zu beteiligen, beispielsweise über Zuzahlungsbefreiungen bei Medikamenten. Vergleichbare Modelle werden bereits von der AOK Baden-Württemberg und der Bosch BKK erfolgreich umgesetzt.

 

REFERENZEN:

1. Deutscher Hausärzteverband: Pressemitteilung, 5. Januar 2017

 

Kommentar

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