„INVEST Billstedt Horn“ soll die Gesundheitsversorgung in Hamburger Problemvierteln verbessern

Christian Beneker

Interessenkonflikte

5. Januar 2017

Sie kommen aus vieler Herren Länder, sind kränker als der Durchschnitt, weniger gebildet, verirren sich leichter im deutschen Gesundheitssystem – und sie sterben früher als der Durchschnitt der Deutschen. Die Rede ist von den rund 109.000 Bewohnern der beiden Hamburger Stadtteile Horn und Billstedt östlich der Hamburger Innenstadt.

Integriertes, patientenorientiertes Versorgungsmodell startet

Nun startet ein Konsortium aus Gesundheitsmanagern, Krankenkassen, Praxen, Kliniken, Wissenschaft und Unternehmen ein integriertes, patientenorientiertes Versorgungsmodell nach Paragraf 140 ff SGB V. Es soll die Gesundheit dieser Stadtteilbewohner verbessern.

Teilnehmen können bisher Versicherte der AOK Rheinland/ Hamburg. Die Teilnahme der Versicherten von BARMER GEK und DAK Gesundheit wird derzeit verhandelt. Der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) will das Hamburger Projekt „INVEST Billstedt/Horn – Hamburg Billstedt/Horn als Prototyp für Integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen“ ab 2017 für 3 Jahre mit bis zu 6,3 Millionen Euro fördern.

Die Hamburger OptiMedis AG, die auch schon an „Gesundes Kinzigtal“ beteiligt ist, hat inzwischen auch mit weiteren Partnern die Management-Gesellschaft Gesundheit für Billstedt/Horn UG gegründet. Allerdings: Die sozialen Brennpunkte in Hamburg-Horn und -Billstedt fordern andere Maßnahmen als das beschauliche Kinzigtal. Eine Herausforderung, wie OptiMedis-Vorstand Dr. h. c. Helmut Hildebrandt sagt.

Niedrigschwellige Angebote

 
Die Patienten werden aufgeklärt und vorbereitet und gehen dann gezielt in die Praxen. Dadurch werden die Praxen bei der Organisation entlastet. Dr. h. c. Helmut Hildebrandt
 

Die Initiatoren planen unter anderem einen so genannten Gesundheitskiosk. „Eine Idee aus Finnland“, erläutert Hildebrandt. In dem Kiosk wird ein interdisziplinäres Team ein niedrigschwelliges Gesundheitsangebot unterbreiten, um vor dem Arztbesuch die wichtigsten Fragen zu klären wie: Bei welchen Ärzten war ich bisher? Was haben sie mir verschrieben? Welche Leistungen habe ich in Anspruch genommen? Mit welchen Diagnosen genau war ich im Krankenhaus? „Die Patienten werden aufgeklärt und vorbereitet und gehen dann gezielt in die Praxen“, sagt Hildebrandt. „Dadurch werden die Praxen bei der Organisation entlastet.“

Außerdem planen die Initiatoren zielgruppenorientierte Versorgungsprogramme, „Kooperationen mit Gemüsehändlern, die zum Beispiel bei der ernährungs-gesundheitlichen Aufklärung mitmachen könnten“, so Hildebrandt. Überhaupt sei es in Hamburg – anders als im Kinzigtal – wichtiger, mit allen Anbietern sozialer Dienste zusammenzuarbeiten, vom Pflegedienst bis zur Beratungsstelle und dem Gesundheitsamt. Eigens für INVEST wurde ein Ärztenetz in den Vierteln gegründet, das Ärztenetz Billstedt-Horn e.V.. Um den Datenfluss zu gewährleisten, werden alle beteiligten Ärzte untereinander elektronisch verbunden sein. Über welches System, ist noch unklar.

Gesundheitskiosk und die elektronische Vernetzung der teilnehmenden Arztpraxen seien brauchbare Mittel, um die Versorgung nachhaltig zu verbessern, so Dr. Gerd Fass, Facharzt für Chirurgie in Billstedt und Vorsitzender des Ärztenetzes Billstedt-Horn e.V. „50 Prozent unserer Patienten sind solche mit Migrationshintergrund. Oft scheitert ein Gespräch schon daran, dass die Krankengeschichte unklar ist. Dann müssen wir zeitraubende Telefonate mit Kollegen führen. Da hilft nun bald der Kiosk.“

Die Bemühungen müssen gegen das schlechte Image der Stadtteile antreten: Viele Migranten, hohe Kriminalität, gescheiterte Integration, sei das öffentliche Bild des Viertels, beklagt die OptiMedis AG im Entwicklungs- und Handlungskonzept, das sie für eine „gesundheitsfördernde Stadtteilentwicklung in Billstedt und Horn“ geschrieben hat [1].

 
50 Prozent unserer Patienten sind solche mit Migrations- hintergrund. Oft scheitert ein Gespräch schon daran, dass die Krankengeschichte unklar ist. Dr. Gerd Fass
 

Tatsächlich gibt es erhebliche Probleme: Auf der Karte der Stadt, die im Zuge des Hamburger Sozialmonitorings 2014 die Stadtteile in 12 Farben einfärbt – von grün für hohen Status und positiver Dynamik bis rot für sehr niedrigen Status und negativer Dynamik – leuchten die beiden Stadtteile violett bis tief rot. Rund die Hälfte der Bewohner haben einen Migrationshintergrund, im Bundesschnitt sind es 19%. Das Einkommen liegt rund 40% niedriger als der Durchschnitt an der Elbe.

Hohe Krankheitslast

Die schlechte soziökonomische Situation treibt die Krankheitslast in Horn und Billstedt nach oben. So liegt z.B. der Anteil der Menschen, die wegen Adipositas in Behandlung sind, je nach Patientenalter zwischen 14,5% und 25% aller Versicherten. Damit übersteigen die Zahlen der Problemstadtteile den Hamburger Schnitt um relative 3,9 bis 8,4%. Auch bei Bluthochdruck, COPD oder Diabetes mellitus führen die Bürger Horns und Billstedts die Tabelle an. Besonders groß ist der Unterschied bei den affektiven Störungen, vor allem bei Männern. Sie liegen in manchen Gebieten der beiden Stadtteile mit 27,1% aller 50 bis 60-jährigen Versicherten um relative 10% über den Hamburg-Schnitt und mit 26,1% bei den 60 bis 70-jährigen Versicherten um relative 12,4% höher.

Angesichts der Zahlen verwundert es nicht, dass auch die Sterblichkeit in den beiden Stadtvierteln hoch ist. Insgesamt sterben die Menschen in Billsted und Horn 13 Jahre früher als der Durchschnittsdeutsche und 13 bis 16 Jahre früher als Hamburger aus anderen Teilen der Stadt, so Hildebrandt.

Entsprechend der hohen Krankheitslast müssen die Kassen für ihre Patienten in Billstedt und Horn auch mehr Geld ausgeben, als sie durch die Versicherungsbeiträge einnehmen. „Die rund 33.000 AOK-Versicherten in den beiden Vierteln führen zu einer negativen Kostendeckung von hier allein 2,2 Millionen Euro im Jahr“, sagt Hildebrandt.

 
Das Projekt kann auch eine Blaupause sein für andere Stadtviertel etwa im Ruhrgebiet, in Berlin oder Wilhelmshaven. Dr. h. c. Helmut Hildebrandt
 

„Die höhere Krankheitslast der Bevölkerung geht einher mit einem schlechteren Versorgungsgrad in den Stadtteilen“, sagt Fass. Beide Stadtteile haben eine unterdurchschnittliche Haus- und Facharztdichte. Dies hat zur Folge, dass unter anderem die Zahl der Notaufnahmen in den Kliniken seit Jahren steigt.

Weil Hamburg ein einziger ganzer Versorgungsbereich der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg ist, haben immer wieder Ärzte „die Praxen aus den Vierteln weggekauft und an anderer Stelle in der Stadt eröffnet“, so Fass. „Inzwischen unterbindet dies aber der Zulassungsausschuss.“ Das eingebundene Ärztenetz hat derzeit 20 Mitglieder. „Wir möchten, dass 50 Prozent der 120 infrage kommenden Ärzte langfristig mitmachen“, sagt er.

Horn und Billstedt sind überall. „Das Projekt kann auch eine Blaupause sein für andere Stadtviertel etwa im Ruhrgebiet, in Berlin oder Wilhelmshaven“, meint Hildebrandt. Deshalb wird es vom Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Jonas Schreyögg wissenschaftlich begleitet.

 

Kommentar

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