Schluss mit Schonung: Nach Commotio cerebri ist leichte Bewegung für Kinder die bessere Option

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

4. Januar 2017

Nach Gehirnerschütterungen raten Pädiater ihren kleinen Patienten bislang zur strikten Ruhe. Jetzt berichtet Dr. Anne M. Grool im JAMA, dass leichte Bewegung nach einer Commotio cerebri das Risiko späterer Beschwerden verringert [1]. Grool forscht am Children’s Hospital of Eastern Ontario Research Institute in Ottawa, Kanada.

Ihre Erkenntnis hat große Relevanz für die Praxis, wie ein Blick in die amtliche Statistik zum Verletzungsgeschehen in Deutschland zeigt. Bei Säuglingen und Kleinkindern stehen Kopfverletzungen mit fast 83% bzw. 63% aller Diagnosen in Deutschland zahlenmäßig an erster Stelle, berichtet das Statistische Bundesamt (DESTATIS). Dabei handelt es sich meist um Gehirnerschütterungen.

Statistiker sprechen von 1.296 Fällen pro 100.000 Säuglingen bzw. 923 pro 100.000 Kleinkindern. Über alle Altersgruppen hinweg werden in Deutschland pro Jahr schätzungsweise 45.000 leichte Schädel-Hirn-Verletzungen diagnostiziert. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.

Bisherige Empfehlungen infrage gestellt

Liegen keine Anhaltspunkte für die stationäre Aufnahme vor, also Bewusstseinstrübungen, Bewusstlosigkeit oder neurologische Störungen, raten internationale Fachgesellschaften vor allem zur körperlichen und geistigen Ruhe. Kleine Patienten sollten sich in ersten Tagen nach ihrem Unfall schonen, sprich auf Bewegung, Sport, Schulbesuche oder Hausaufgaben verzichten. Jetzt stellen Wissenschaftler die Empfehlung infrage.

 
Kinder, die körperlich aktiv waren, hatten ein geringeres Risiko, innerhalb eines Monats weitere Beschwerden zu entwickeln. Dr. Roger Zemek
 

„Das Ziel unserer Studie war, zu zeigen, welche Folgen leichte körperliche Bewegung nach Gehirnerschütterungen hat“, erklärt Dr. Roger Zemek gegenüber Medscape. Auch er arbeitet am Children’s Hospital of Eastern Ontario Research Institute. Zemek verweist auf Leitlinien, die jungen Patienten raten, sich auszuruhen. „Es gab aber schon länger Hinweise, dass zu lange Ruhepausen bei der Erholung eher hinderlich sind“, ergänzt der Forscher. So profitierten Sportler, die sich nach Gehirnerschütterungen nur langsam erholten, von moderater Bewegung.

Ohne Ruhepausen bessere Erholung

Für die Studie haben die Forscher mehr als 3.000 Kinder und Jugendliche aus 9 kanadischen Notfalleinrichtungen rekrutiert. Alle Probanden waren zwischen 5 und 18 Jahre alt und hatten in den letzten 48 Stunden einen Unfall mit leichter Kopfverletzung erlitten. Ärzte untersuchten sie nach einer Woche, nach 2, 4, 8, und 12 Wochen, um zu sehen, wie sie sich erholt hatten. Zur Erfassung ihrer Beschwerden setzen sie das Post-Concussion Symptom Inventory (PCSI-P) ein. Gleichzeitig wurde per Fragebogen erfasst, ob sich die Studienteilnehmer im Zeitraum sportlich betätigt hatten.

„Kinder, die körperlich aktiv waren, hatten ein geringeres Risiko, innerhalb eines Monats weitere Beschwerden zu entwickeln“, berichtet Zemek. Unter Bewegung waren es 28,7%, verglichen mit 40,1% unter Ruhe. Die Differenz erwies sich als statistisch signifikant. Zu den Symptomen gehören vor allem Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit beziehungsweise Erbrechen und eine allgemeine Schwäche.

Empfehlungen mittelfristig überarbeiten

„Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie und nicht um eine randomisierte, kontrollierte Studie“, räumt Zemek ein. Man könne nicht beweisen, ob Besserung und Bewegung in einem kausalen Zusammenhang stünden. Vielleicht bewegten sich Patienten, denen es schlechter geht, einfach weniger?

Trotz dieser Limitierungen fordert Zemek, bestehende Empfehlungen zu überdenken. Zum weiteren Vorgehen sagt der Experte: „Im nächsten Schritt planen wir herauszufinden, welche Art von Bewegung und welcher zeitliche Umfang ideal sind, um spätere Symptome bestmöglich zu reduzieren.“ Für viele Kinder sei aus medizinischen Gründen eben doch kein „Hausarrest“ erforderlich.

Gleichzeitig warnt er vor übertriebenem Eifer: „Wir wollen nicht, dass Kinder während der Erholungsphase eine weitere Gehirnerschütterung erleiden.“ Denn komme es zu einer weiteren Gehirnerschütterung, seien schwere Komplikationen bis zur Hirnschwellung nicht auszuschließen. In der Literatur sind diese Fälle mit einer stark erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert. Als risikoarme Aktivitäten nennt der Experte Walken, leichtes Joggen oder Fahrradfahren.

 

REFERENZEN:

1. Grool AM, et al: JAMA 2016;316:2504-2514

 

Kommentar

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