„Meilensteinstudie“ bei primär progressiver Multipler Sklerose: Als erstes Medikament hält Ocrelizumab das Fortschreiten signifikant auf

Dr. Susanne Heinzl

Interessenkonflikte

3. Januar 2017

Der CD20-Antikörper Ocrelizumab ist Interferon beta-1a in der Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose (MS) deutlich überlegen. Dies geht aus den beiden identischen Studien OPERA 1 und 2 hervor, die von der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stephen Hauser, Leiter der neurologischen Abteilung, Universität von San Francisco, USA im New England Journal of Medicine publiziert worden sind [1].

Zudem zeigte Ocrelizumab als allererstes Medikament überhaupt eine Wirkung bei der Behandlung der primär progredienten MS, wo es das Fortschreiten der Behinderung verzögerte, so das Ergebnis der Phase-3-Studie ORATORIO, das Prof. Dr. Xavier Montalban, Universitat Autònoma de Barcelona, Spanien, als Erstautor ebenfalls im New England Journal of Medicine veröffentlicht hat [2]. „Dies ist das erste Arzneimittel, das die Progression der Behinderung in einer Phase-3-Studie bei primär progressiver MS signifikant verlangsamt hat, deshalb ist dies eine Meilenstudie“, urteilt Prof. Dr. Peter A. Calabresi, Abteilung für Neurologie, Johns-Hopkins-Universität, Baltimore, im begleitenden Editorial, über die ORATORIO-Studie [3].

Prof. Dr. Ludwig Kappos, Chefarzt der Neurologie des Universitätsspitals Basel, und in leitender Funktion an den beiden Studien beteiligt, kommentiert in einer Pressemitteilung: „Bei der schubförmigen MS ist Ocrelizumab hochwirksam und Interferon beta-1 deutlich überlegen. Bei der primär progredienten MS hat mit Ocrelizumab erstmals überhaupt ein Medikament eine Wirkung erzielt und das Fortschreiten der Behinderung verzögert.“

Bislang keine Therapie bei primär progredienter MS

Die MS kann in 3 große Untergruppen eingeteilt werden:

  • die in Schüben verlaufende Form (RMS), bei der sich die Patienten ganz oder teilweise von einem Schub erholen, aber weiterhin neue Schübe erleiden können,

  • die sekundär progressive Form, bei denen sich die Erkrankung zwischen den Schüben weiter verschlechtert und

  • die primär progressive MS (PPMS), bei der sich der Zustand der Patienten ab Diagnose kontinuierlich verschlechtert.

In den letzten 2 Jahrzehnten wurde eine Vielzahl neuer Therapien entwickelt, die die Schubrate verringern, die mit Magnetresonanztomographie (MRT) nachweisbare Anreicherung von Läsionen reduzieren und die die Behinderung moderat verlangsamen. Allerding wirken diese Substanzen praktisch nur bei der RMS.

 
Dies ist das erste Arzneimittel, das die Progression der Behinderung in einer Phase-3-Studie bei primär progressiver MS signifikant verlangsamt hat, deshalb ist dies eine Meilenstudie. Prof. Dr. Peter A. Calabresi
 

Angriff an der B-Zelle

Die meisten in der Therapie der MS eingesetzten Medikamente richten sich gegen die T-Zellaktivierung, die Wanderung von T-Zellen in das ZNS sowie gegen Effektorfunktionen von Lymphozyten. Viele wirken auch gleichzeitig auf B-Zellen. B-Zellen wandern bei MS ebenfalls aus dem peripheren Blut in das ZNS. Sie produzieren spezielle Immunglobuline, die als charakteristischer Befund in der Zerebrospinalflüssigkeit nachzuweisen sind.

In verschiedenen Phase-1- und -2-Studien hatte der chimäre B-Zell-Antikörpers Rituximab bei Patienten mit RMS die Zahl der Schübe und die Aktivität im MRT verringert, bei primär progressiver MS hatte sich nur in einer Post-hoc-Analyse bei einer Subgruppe ein Effekt gezeigt. Roche führte mit Rituximab jedoch keine weiteren klinischen Studien mehr durch, vermutlich weil der Patentschutz in der EU bereits im Jahr 2013 abgelaufen war. Man entschloss sich, den voll humanisierten CD20-Antikörper Ocrelizumab bei der MS weiter zu untersuchen, für den mittlerweile die Zulassung in den USA und in der EU für die Behandlung der RMS und der PPMS beantragt ist.

Aufgrund der ersten Ergebnisse aus der ORATORIO-Studie erhielt Ocrelizumab im Februar 2016 den Breakthrough-Status bei PPMS, was Voraussetzung für eine beschleunigte Zulassung in den USA ist. Allerdings hat die FDA vor kurzem den Prüfungszeitraum für den Zulassungsantrag bis zum 28. März 2017 verlängert, was nach Aussage von Roche auf die Einreichung zusätzlicher Daten zum kommerziellen Herstellungsprozess zurückzuführen ist.

OPERA 1 und OPERA2 bei in Schüben verlaufender MS

In 141 Zentren in 32 Ländern wurden 821 Patienten mit RMS die OPERA-1-Studie aufgenommen. In der OPERA-2-Studie wurden in 166 Zentren in 24 Ländern 835 Patienten eingeschlossen. Beide Studien weisen das gleiche Design auf.

Randomisiert erhielten die Patienten über 96 Wochen alle 6 Monate 600 mg Ocrelizumab infundiert (n = 410 bzw. n = 417) oder 3-mal pro Woche subkutan 44 µg Interferon beta-1a (n = 411 bzw. n = 418) injiziert. Primärer Endpunkt war die annualisierte Schubrate (ARR). Sie lag in jeder der beiden Studien bei 0,16 in der Ocrelizumab und bei 0,29 in der Interferon-Gruppe (jeweils p < 0,001). Dies bedeutet eine relative Reduktion der ARR um 46 bzw. 47 % (jeweils p < 0,001).

In der vordefinierten gepoolten Analyse beider Studien war bei 9,1% Patienten unter Ocrelizumab und bei 13,6% unter Interferon beta-1a die Erkrankung nach 12 Wochen und bei 6,9% bzw. 10,5% nach 24 Wochen bestätigt fortgeschritten. Ocrelizumab senkte damit das relative Risiko für eine bestätigte Krankheitsprogression im Vergleich zu Interferon nach 12 und 24 Wochen um jeweils 40% (p = 0,0001 bzw. p = 0,003).

Im MRT sank die mittlere Zahl von Gadolinium-aufnehmenden, T1-gewichteten Läsionen von 0,29 mit Interferon auf 0,02 mit Ocrelizumab in OPERA1 und von 0,42 auf 0,02 in OPERA2, was einer relativen Reduktion um 94 bzw. 95% entsprach (p < 0,001 und p < 0,001). Die Zahl neuer oder vergrößerter hyperintenser T2-Läsionen nahm unter Ocrelizumab in den beiden Studien um 77 bzw. 83% im Vergleich zu Interferon ab (p < 0,001 und p < 0,001).

Nebenwirkungsrate von Ocrelizumab und Interferon ähnlich

Schwere unerwünschte Wirkungen wurden von 6,9% bzw. 7,0% der Patienten unter Ocrelizumab in OPERA 1 bzw. OPERA 2 und von 7,8% bzw. 9,6% unter Interferon beta-1a berichtet. Während der Studien starben 3 Patienten: In den Ocrelizumab-Gruppen kam es zu einem Suizid, in der Interferon-Gruppe zu einem Suizid und einem Todesfall wegen Ileus. Infektionen traten bei 56,9% bzw. 60,2% unter Ocrelizumab und 54,3% bzw. 52,5% unter Interferon beta-1a auf. Am häufigsten kam es zu Infektionen der oberen Atemwege und zu Harnwegsinfektionen. Eine Infektion mit Herpesviren trat bei 5,9% der Patienten in den Ocrelizumab-Gruppen der beiden Studien und bei 3,8 % unter Interferonbehandlung auf. Bislang wurde unter Ocrelizumab kein Fall einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) beobachtet. Zu infusionsbedingten Reaktionen kam es bei 34,3% der Ocrelizumab-Patienten und bei 2,9% der Interferon-Patienten.

 
Bei der schubförmigen MS ist Ocrelizumab hochwirksam und Interferon beta-1 deutlich überlegen. Prof. Dr. Ludwig Kappos
 

In den beiden Studien erkrankten 4 mit Ocrelizumab behandelte Patienten an einem bösartigen Tumor – 2 an einem Mammakarzinom, einer an einem Nierenzellkarzinom und einer am malignen Melanom. In der Interferon-Gruppe wurden ein Mantelzell-Lymphom und ein Plattenepithelkarzinom beobachtet. „Eine weitere lang dauernde Untersuchung des Sicherheitsprofils von Ocrelizumab ist erforderlich, um das Risiko ungewöhnlicher Nebenwirkungen, einschließlich einer PML, besser charakterisieren zu können“, so die Autorengruppe um Hauser.

ORATORIO bei primär progressiver MS

In der randomisierten, doppelblinden multizentrischen Phase-3-Studie ORATORIO wurden 732 Patienten mit PPMS aufgenommen. Sie erhielten randomisiert 600 mg Ocrelizumab alle 6 Monate infundiert (n = 488) oder Placebo (n = 244). Die Studie dauerte so lange, bis alle Patienten 120 Wochen Behandlung erhalten hatten und ein vordefinierter Anstieg in der Expanded Disability Status Scale (EDSS ) aufgetreten war. Primärer Endpunkt war der Prozentsatz der Patienten mit bestätigter Krankheitsprogression nach 12 Wochen.

Nach 12 Wochen war die Erkrankung bei 32,9% der Patienten unter Ocrelizumab und bei 39,3% unter Placebo fortgeschritten, dies entspricht einer relativen Risikoreduktion von 24% (p = 0,03) durch den CD20-Antikörper. Nach 24 Wochen war das Risiko um 25% geringer (p = 0,04).

Nach Woche 120 hatte sich die Zeit für den 25-Fuß-Gehstreckentest bei 38,9% der Ocrelizumab- und bei 55,1% der Placebo-Patienten verschlechtert, was einer relativen Verbesserung um 29% durch Ocrelizumab entsprach (p = 0,04). Im MRT nahmen die T2-gewichteten Hirnläsionen unter dem Antikörper um 3,4% ab, unter Placebo stiegen sie um 7,4% (p < 0,001). Das gesamte Hirnvolumen sank unter Ocrelizumab um 0,9%, unter Placebo um 1,09%, was einer Verringerung der Hirnvolumenabnahme um 17,5% durch Ocrelizumab entsprach (p = 0,02).

 
Die B-Zelle ist ein Reservoir für Epstein-Barr-Viren, die wegen ihrer großen Ähnlichkeit in der Sequenz mit dem Basisprotein von Myelin an der Pathogenese der MS beteiligt sein könnten. Prof. Dr. Peter A. Calabresi
 

Infusion-bedingte Reaktionen (39,9% vs 25,5%), Infektionen der oberen Atemwege (10,9% vs 5,9%) und orale Herpesvirusinfektionen (2,3% vs 0,4%) waren unter Ocrelizumab häufiger als unter Placebo. Schwere unerwünschte Wirkungen und schwere Infektionen waren in beiden Gruppen ähnlich häufig. Zu bösartigen Erkrankungen kam es bei 2,3% in der Verum- und bei 0,8% der Patienten in der Placebo-Gruppe.

Genauer Wirkungsmechanismus noch nicht bekannt

„Die Wirksamkeit von Ocrelizumab in unserer Studie deutet darauf hin, dass B-Zellen an der Pathogenese der primär progressiven multiplen Sklerose beteiligt sind und dass die B-Zell-vermittelte Entzündung eine direkte oder indirekte Rolle bei der Neurodegeneration spielt“, so die Schlussfolgerung der Arbeitsgruppe um Montalban.

Calabresi führt im begleitenden Editorial aus, dass der Mechanismus, über den eine B-Zell-Depletion die bei MS-Patienten beobachteten Wirkungen vermittelt, noch nicht ganz bekannt sei. Er weist auch auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Epstein-Barr-Virus hin: „Die B-Zelle ist ein Reservoir für Epstein-Barr-Viren, die wegen ihrer großen Ähnlichkeit in der Sequenz mit dem Basisprotein von Myelin an der Pathogenese der MS beteiligt sein könnten. Die Spekulation könnte interessant sein, dass eine B-Zell-Depletion dieses Reservoir beseitigt und damit die Autoreaktivität verringert. Dies ist aber nicht bewiesen.“ Bei Patienten mit PPMS könnten zusätzliche Wirkungsmechanismen zum Tragen kommen, hier seien auf jeden Fall weitere Studien erforderlich.

Calabresi weist zudem auf die Nebenwirkungen hin, die aufgrund der immunsupprimierenden Wirkungen entstehen können, wie erhöhte Infektionsanfälligkeit und vermehrt auftretende bösartige Erkrankungen: „Diese Nebenwirkungen müssen in weiteren Studien und in Phase-4-Untersuchungen an einer breiteren Patientengruppe untersucht werden, um das Ausmaß des Risikos beurteilen zu können.“ Ärzte sollten für die Therapie sorgfältig die Patienten auswählen, die den größten Nutzen haben könnten und sie sollten sorgfältig auf unerwünschte Wirkungen achten, weil diese dann am besten behandelt werden könnten, wenn sie frühzeitig bemerkt werden.

 

REFERENZEN:

1. Hauser SL, et al. NEJM (online) 21. Dezember 2016

2. Montalban X, et al. NEJM (online) 21. Dezember 2016

3. Calabresi PA. NEJM (online) 21. Dezember 2016

 

Kommentar

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