Düsseldorf – Jugendlichen und Erwachsenen, die sich zwanghaft häufig im World Wide Web bewegen, soll künftig das Projekt „OASIS – Online-Ambulanz-Service für Internetsüchtige“ helfen, das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird. Das Portal wurde anlässlich der MEDICA 2016 in das ZTG (Zentrum für Telematik und Telemedizin)-Anwenderzentrum eGesundheit der nordrheinwestfälischen Landesregierung aufgenommen [1].
„Internetsüchtige fühlen sich durch ihr Nutzungsverhalten im Alltag stark beeinflusst“, erklärte Laura Bottel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie, auf der MEDICA gegenüber Medscape. Die dortige Ambulanz für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie unter der Leitung von Dr. Bert te Wildt hat das OASIS-Projekt gemeinsam mit dem ZTG entwickelt.

Laura Bottel
„Körperhygiene und Beruf oder Schule werden vernachlässigt; vielen Abhängigen fällt es sogar schwer, das Haus zu verlassen. Der Leidensdruck ist also groß, aber die Betroffenen wissen oft nicht, wo sie Hilfe bekommen können”, fügt Bottel an. Als niederschwelliges Angebot soll die Online-Ambulanz Abhängige zunächst dort erreichen und abholen, wo ihre Sucht entstanden ist, die Internetabhängigkeit diagnostizieren und bei Bedarf Therapiemöglichkeiten in einer Behandlungseinrichtung in der Umgebung empfehlen.
Mehr Internet- als Glücksspielsüchtige
Die Nutzung des Internets ist in den vergangenen 10 Jahren drastisch gestiegen. Im Jahr 2006 lag der Anteil der Internetnutzer in Deutschland bei 58%; 2016 schon bei 79%. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2016 nutzen aktuell rund 58 Millionen Menschen in Deutschland das Internet. Darunter befinden sich immer mehr Nutzer mit einem zwanghaften Bedürfnis zum Surfen. Studien in den letzten Jahren zeigen Internetsucht-Prävalenzen zwischen 0,8% (in Italien) bis zu 26,7% (in Hongkong).
Schon 2011 gab es in Deutschland laut der im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführten PINTA (Prävalenz der Internetabhängigkeit)-Studie mehr Internetsüchtige als Glücksspielabhängige, nämlich rund 560.000. Bei 1,5% der 14- bis 64-Jährigen (1,3% Frauen, 1,7% Männer) ist der Studie zufolge eine Internetabhängigkeit wahrscheinlich, bei 4,6% liegt bei mindestens 4 Stunden online eine „problematische Internetnutzung“ vor. Bei den 14- bis 24-Jährigen seien mehr Frauen (4,6%) als Männer (3,0%) abhängig. Der Anteil der Glückspielsüchtigen liegt bei 0,3-0,5%.
Selbsttest im Internet
Seit September 2016 ist das OASIS-Portal online. Auf der Startseite werden Betroffene und deren Angehörige zunächst zu einem anonymen Selbsttest aufgefordert. 9 Fragen nach DSM-5-Kriterien sollen klären, ob sie tatsächlich an einer problematischen und behandlungsbedürftigen Internetnutzung leiden. Die Sucht kann sich auf unterschiedliche Inhalte im Netz beziehen, etwa Online-Gaming, also Computerspiele im Internet, soziale Netzwerke, Video-Streaming oder Pornografie und Cybersex.
„Ist eine Abhängigkeit wahrscheinlich, laden wir den Betroffenen oder auch die Angehörigen zu einer ausführlichen Untersuchung und Diagnosestellung durch psychologische Fragebögen und eine etwa einstündige Webcam-basierte Online-Sprechstunde ein“, erklärt Bottel. Dieses Gespräch solle die Behandlungsmotivation stärken und Therapiemöglichkeiten aufzeigen.
In einem 2. Gesprächstermin werden Internetsüchtige hinsichtlich spezifischer Behandlungsmöglichkeiten in ihrer Nähe beraten, etwa in einer psychiatrischen Klinik, einer ambulanten Sprechstunde oder durch eine Selbsthilfegruppe. „In diesem zweiten Gespräch gilt es die Brücke von der digitalen zur analogen Hilfe zu schlagen“, erklärt Bottel.
Exzessiver Internetkonsum oder Sucht?
Internetsüchtige, erklärt sie, leiden häufig unter Depressionen, sozialen Ängsten oder Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen. In den Online-Sprechstunden können auch Behandlungsmöglichkeiten dieser Komorbiditäten aufgezeigt werden.
Ob es sich bei exzessivem Internetkonsum tatsächlich um eine Sucht handle, erkenne man an negativen Auswirkungen auf mindestens einen dieser 3 Lebensbereiche:
Vernachlässigung von Körperpflege, Ernährung und Gesundheit,
soziale Probleme in Familie, Partnerschaft und Freizeit,
Leistungsabfall in Schule, Ausbildung oder Beruf.
Problematische Internetnutzung bei 45 Prozent der Teilnehmer
Das OASIS-Programm richtet sich an Personen ab 18 Jahre sowie Angehörige von über 14-Jährigen, die bei ihren Kindern eine unkontrollierte Internetnutzung vermuten. Bisher haben mehr als 4.000 Teilnehmer den Selbsttest gemacht, der bei 45% der Teilnehmer auf eine problematische Internetnutzung hindeutete.
Insgesamt waren 67% der Nutzer männlich, das Durchschnittsalter betrug 37 Jahre, und im Schnitt waren die Fragebogenteilnehmer 6,82 Stunden am Tag im Netz. Häufigste Aktivitäten dort: Cybersex (59%) und Online-Spiele (50%). Bisher haben 22 Nutzer an beiden Online-Sprechstunden teilgenommen.
Die Mitarbeiter der Medienambulanz am LWL-Universitätsklinikum Bochum wollen ebenfalls auswerten, wie viele der Internetabhängigen, die das OASIS-Portal nutzen, tatsächlich eine analoge Therapie beginnen. Ziel sei es, das Programm deutschlandweit allen Spezialambulanzen und Beratungsstellen zur Verfügung zu stellen.
REFERENZEN:
1. Projekt OASIS auf der MEDICA, Düsseldorf, 14. November 2016
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Wenn Surfen zur Sucht wird: Neue Online-Ambulanz hilft Internetabhängigen - Medscape - 27. Dez 2016.
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