Umstrittener Eingriff: Auf jede dritte Bandscheiben-OP könnte einer Umfrage der Barmer GEK zufolge verzichtet werden

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

22. Dezember 2016

Jeder 3. Bandscheiben-Patient wird womöglich vorschnell operiert, ohne dass zuvor konservative Behandlungsmethoden wie Krankengymnastik, Massagen und Schmerztherapien ausgeschöpft wurden. Das ist das Ergebnis einer Studie des Hamburg Center for Health Economics (HCHE), für die ein Team um Dr. Matthias Bäuml, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Management im Gesundheitswesen der Universität Hamburg, im Auftrag der Barmer GEK mehr als 6.000 Versicherte befragt hat [1].

Prof. Dr. Frank Kandziora

Bei den Ärzte stößt die Studie auf scharfe Kritik: „Mit solch populistischen Auswertungen von Patientenbefragungen versuchen die Kassen lediglich, ihren Versicherten das Recht auf eine Bandscheiben-OP streitig zu machen, um auf diese Weise Kosten zu sparen“, sagt Prof. Dr. Frank Kandziora, Leiter der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), gegenüber Medscape.

Vorgehen missachtet die Leitlinien

Bei den angeschriebenen Personen war zwischen September 2014 und August 2015 die Exzision einer Bandscheibe im Lendenwirbelbereich vorgenommen worden. Der Befragung zufolge unterziehen sich vor allem berufstätige Männer im mittleren Alter oft rasch einer Bandscheiben-OP, da sie befürchten, ansonsten ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können.

Ein solches Vorgehen missachte die Empfehlungen der Leitlinie zum lumbalen Bandscheibenvorfall der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC), kritisieren die Forscher um Bäuml. Die Verfasser der Leitlinie würden ein frühes operatives Vorgehen nur dann für gerechtfertigt halten, wenn ein Cauda-equina-Syndrom, starke Lähmungserscheinungen oder massive Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule vorliegen. Für alle anderen Fälle werde eine konservative Therapie empfohlen, die innerhalb von 6 bis 8 Wochen eine deutliche Schmerzlinderung und eine Zunahme der Belastbarkeit erbringen soll.

Wirbelsäulenchirurgen kritisieren die Studie als einseitig und bedeutungslos

Prof. Dr. Veit Braun

Mediziner halten die Ergebnisse der Patientenbefragung allerdings, gelinde gesagt, für wenig valide. „In meinen Augen ist diese Studie völlig bedeutungslos“, sagt Kandziora, der Chefarzt des Zentrums für Wirbelsäulenchirurgie und Neurotraumatologie der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main ist.

Ähnlicher Ansicht ist Prof. Dr. Veit Braun, Chefarzt der Neurochirurgischen Klinik am Diakonie Klinikum Jung-Stilling in Siegen und Vorstandsmitglied der DGNC: „Die Autoren der Studie ziehen aus den Ergebnissen ihrer Befragung sehr einseitige Schlüsse, die ausschließlich im Sinne des Auftragsgebers sind und den Patienten nicht gerecht werden“, sagt Braun gegenüber Medscape. „Und die Aussage, dass jede dritte Bandscheiben-OP überflüssig ist, halte ich für geradezu unverschämt.“

Zwar stehe man generell zu den Empfehlungen der Leitlinie, sagt Braun. Allerdings könne man nicht alle Patienten über einen Kamm scheren: „Man kann nicht jedem von ihnen zumuten, ein halbes Jahr lang dreimal wöchentlich zur Krankengymnastik zu gehen und darüber hinaus Schmerzmittel einnehmen zu müssen, die nicht nur Leber und Niere belasten, sondern womöglich sogar abhängig machen.“ Gerade bei Patienten mit starken Beschwerden sei eine frühzeitige Operation oft angebracht, auch wenn keine Symptome eines Notfalls vorliegen, betont Braun.

Weniger als die Hälfte der angeschriebenen Versicherten nahm an der Befragung teil

 
Mit solch populistischen Auswertungen von Patientenbefragungen versuchen die Kassen lediglich, ihren Versicherten das Recht auf eine Bandscheiben-OP streitig zu machen … Prof. Dr. Frank Kandziora
 

Bäuml und seine Kollegen verschickten ihren Fragebogen an 6.039 Versicherte der Barmer GEK, die im genannten Zeitraum eine Bandscheiben-OP hatten vornehmen lassen. Rund 46% der Angeschriebenen (2.807 Versicherte) füllten den Fragebogen aus und schickten ihn zurück. Da im Jahr 2014 in Deutschland 80.500 Patienten mit Bandscheibenschäden im Lendenwirbelbereich operiert worden seien, handele es sich bei den Antwortenden der Befragung um 3 bis 4% aller Patienten, schreiben die Forscher.

Die Versicherten wurden zunächst zu ihren Rückenschmerzen und zu ihrer Behandlung vor der Operation befragt. Anschließend sollten sie angeben, welche Beschwerden ihren Krankenhausaufenthalt ausgelöst hatten und auf welche Weise die Einlieferung ins Krankenhaus erfolgte. Anhand mehrerer Fragen zu konkreten Beschwerden im Vorfeld der Operation versuchten Bäuml und seine Kollegen herauszufinden, ob es sich bei dem Eingriff um einen Notfall gehandelt hatte oder nicht.

Darüber hinaus befragten die Forscher die Versicherten zu ihrer Behandlung im Krankenhaus, beispielsweise zum Auftreten von Komplikationen, und zur Zufriedenheit mit dem dortigen Aufenthalt. Schließlich erhoben sie noch Angaben zur Person, unter anderem zum Alter und zum Geschlecht der Befragten.

Jeder zehnte Operierte leidet der Befragung zufolge an Komplikationen

Wie es in einer Pressemitteilung der Universität Hamburg heißt, wurden konservative Therapieverfahren bei einem Drittel der Befragten nicht konsequent verfolgt oder die Patienten wurden trotz Ansprechens auf nicht-chirurgische Maßnahmen operiert. Auch ohne akute Indikatoren für eine OP hätten die meisten Patienten den Eingriff für den richtigen Weg gehalten. Insbesondere die Berufstätigen hätten sich Sorgen gemacht, ohne OP ihre Arbeit nicht mehr ausüben zu können.

 
In meinen Augen ist diese Studie völlig bedeutungslos. Prof. Dr. Frank Kandziora
 

Zudem seien sie überzeugt gewesen, dass ein Eingriff die bessere Möglichkeit sei, um ihre Schmerzen zu beheben. „Zwar kommt es im Falle einer Bandscheiben-Operation oftmals zu einer Linderung der Beschwerden, doch immerhin zehn Prozent der Operierten leiden nachhaltig unter Komplikationen“, heißt es in der Pressemitteilung weiter.

Der Frankfurter Wirbelsäulenchirurg Kandziora hält diese Zahl allerdings für überhöht. „Es ist doch mehr als wahrscheinlich, dass an einer solchen Befragung vor allem diejenigen Patienten teilnehmen, die mit dem Ergebnis ihrer Operation unzufrieden sind“, sagt er.

 
Die Aussage, dass jede dritte Bandscheiben-OP überflüssig ist, halte ich für geradezu unverschämt. Prof. Dr. Veit Braun
 

„Es gibt qualitativ hochwertige Studien, die belegen, dass mit einer OP nicht nur bessere Ergebnisse erzielt werden als mit konservativen Maßnahmen, sondern auch, dass der Eingriff sicher ist.“ Kandziora verweist dabei unter anderem auf die Ergebnisse der sogenannten SPORT-Studie (Spine Patient Outcomes Research Trial), die im Jahr 2006 im Fachblatt JAMA veröffentlicht wurde.

Sparen oder kosten frühzeitige Operationen Geld?

„Natürlich hören die Kassen solche Ergebnisse nicht gerne, da eine Operation für sie deutlich teurer ist als eine konservative Therapie“, sagt Kandziora. Nach Angaben des HCHE kostet eine Bandscheiben-OP im Schnitt etwa 4.350 Euro. Übertrage man die Befunde ihrer Befragung, seien im Jahr 2014 durch womöglich vorschnelle Operationen Kosten im deutlich zweistelligen Millionenbereich entstanden, werden die HCHE-Forscher in der Pressemitteilung der Universität Hamburg zitiert.

Der Siegener Neurochirurg Braun widerspricht auch diesem Befund. „Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass frühzeitige OPs selbst aus ökonomischer Sicht sinnvoll sind, da die Patienten sehr viel schneller wieder arbeiten können“, sagt er. Eine Studie, die 2015 im International Journal of Spine Surgery veröffentlicht wurde, habe das deutlich gezeigt.

 
Es gibt qualitativ hochwertige Studien, die belegen, dass mit einer OP nicht nur bessere Ergebnisse erzielt werden als mit konservativen Maßnahmen, sondern auch, dass der Eingriff sicher ist. Prof. Dr. Frank Kandziora
 

Studienautoren für das Einholen einer Zweitmeinung

Ein weiteres Ergebnis der HCHE-Umfrage war, dass Patienten, die sich vor einem möglichen chirurgischen Eingriff eine Zweitmeinung eingeholt hatten, häufiger konservativ therapiert wurden als Betroffene, die darauf verzichtet hatten. „Dies zeigt, wie wichtig es ist, entsprechende Beratungsangebote auszubauen“, sagt Volkswirt Prof. Dr. Mathias Kifmann von der Universität Hamburg, der an der Studie ebenfalls beteiligt war.

Auch in dieser Frage ist der Neurochirurg Braun etwas anderer Ansicht: „Natürlich stelle ich es jedem Patienten frei, sich vor einer Operation eine zweite Meinung einzuholen“, sagt er. „Bevor die Kassen so etwas grundsätzlich fordern, müssten sie aber erst einmal ein paar wesentliche Dinge klären.“

Bislang sei zum Beispiel völlig unklar, was geschehen solle, wenn der hinzugezogene Mediziner anderer Meinung sei als der behandelnde Arzt. „Darf dann der Patient selbst entscheiden, wie und bei wem er sich behandeln lässt?“, fragt Braun. „Und zahlen die Kassen die OP auch bei unterschiedlichen Ansichten der beteiligten Mediziner?“ Bislang würden die Patienten mit solchen Fragen alleine gelassen.

 

REFERENZEN:

1. Bäuml M, et al: Gesundheitsmonitor 2016, Verlag Bertelsmann Stiftung: 178-195

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....