Für Säuglinge, die unter Spinaler Muskelatrophie (SMA) vom Typ 1 leiden, steht erstmals ein Medikament zur Verfügung, das den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann. Wie das Universitätsklinikum Freiburg berichtet, wurde eine klinische Zulassungsstudie für den Wirkstoff Nusinersen im August vorzeitig beendet, nachdem sich die Probanden der Interventionsgruppe motorisch deutlich besser entwickelt hatten als die der Placebogruppe [1]. Seither werden alle Teilnehmer der Studie mit dem Wirkstoff behandelt.
Ein Härtefallprogramm ermöglicht schon jetzt eine Therapie

Dr. Jonas Denecke
Der Hersteller von Nusinersen – die Firma Biogen, die den Wirkstoff gemeinsam mit dem Pharmaunternehmen Ionis entwickelt hat – hat die Zulassung des Medikaments, das unter dem Handelsnamen Spinraza® auf den Markt kommen soll, beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und bei der European Medicines Agency (EMA) bereits im Eilverfahren beantragt. Darüber hinaus hat das BfArM ein Härtefallprogramm genehmigt. Dadurch können erkrankte Säuglinge schon vor der offiziellen Zulassung in den Universitätskliniken Freiburg, München und Essen mit Nusinersen behandelt werden.
„Als Ärzte freuen wir uns, Patienten mit SMA endlich eine erste wirksame Therapie anbieten zu können“, sagt der Neuropädiater Dr. Jonas Denecke von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) gegenüber Medscape. Der Aufwand der Therapie stehe nach aktueller Datenlage in einem sehr guten Verhältnis zu ihrem Nutzen. „Zudem scheinen spezifische Nebenwirkungen des Präparates ausgesprochen gering zu sein“, sagt Denecke.
Ohne Therapie sterben viele noch vor ihrem zweiten Geburtstag
Ursache der Spinalen Muskelatrophie ist ein autosomal-rezessiv vererbter Defekt im SMN1-Gen. Aufgrund dieser Veränderung stellen die Patienten allenfalls geringe Mengen des Proteins SMN her – was zur Folge hat, dass ihre Motoneuronen im Rückenmark nach und nach absterben. Vielfach erleben die Kinder nicht einmal ihren zweiten Geburtstag, da ihre Atemmuskulatur vorher versagt.
Die SMA gilt als die häufigste genetische Todesursache bei Kindern. Das dagegen entwickelte Medikament Nusinersen verändert den Ableseprozess des SMN2-Gens, das dem SMN1-Gen stark ähnelt. Auf diese Weise soll der Wirkstoff zu einer vermehrten Produktion des fehlenden SMN-Proteins beitragen und dadurch den Untergang der Nervenzellen aufhalten.
An der im August 2015 gestarteten Phase-3-Studie ENDEAR waren 122 Säuglinge mit SMA vom Typ 1 beteiligt, die bei Behandlungsbeginn jünger als 7 Monate alt gewesen waren. Alle Patienten hatten bei Studienbeginn ohne Atemunterstützung eine gute Sauerstoffsättigung.
Eine Zwischenauswertung nach 12 Monaten ergab bei den Probanden, die Nusinersen erhalten hatten, so gute Ergebnisse, dass die Leiter der Studie beschlossen, diese abzubrechen, um alle 122 Teilnehmer mit dem Wirkstoff behandeln zu können.
„Nach Jahrzehnten der Forschung haben wir endlich ein Medikament, mit dem wir den schweren Krankheitsverlauf der Säuglinge positiv beeinflussen können“, sagt Prof. Dr. Jan Kirschner, Leitender Oberarzt der Klinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen des Universitätsklinikums Freiburg, der maßgeblich an der Studie beteiligt war. „Wir sind den Familien und Selbsthilfegruppen sehr dankbar, die diesen Weg mit uns gegangen sind.“
Patienten mit einer leichteren Variante der Erkrankung profitieren ebenfalls
Auch bei etwas weniger schwer erkrankten Kindern mit Spinaler Muskelatrophie vom Typ 2 konnten in der Phase-3-Studie CHERISH positive Effekte von Nusinersen nachgewiesen werden. An dieser Studie nahmen 126 nicht gehfähige Kinder im Alter zwischen 2 und 12 Jahren teil. Symptome der SMA waren bei ihnen erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres oder noch später aufgetreten.
Nach 15-monatiger Behandlung konnten die Patienten der Interventionsgruppe eine Verbesserung von 4 Punkten in der erweiterten Hammersmith-Skala (HFMSE) erzielen, während die Patienten der Placebogruppe eine Verschlechterung von 1,9 Punkten zeigten. Auch die Probanden dieser Studie werden inzwischen alle mit Nusinersen behandelt. „Wir hoffen, bald vielen Patienten und Familien mit dem Medikament helfen zu können“, sagt Kirschner.
Nebenwirkungen sind vor allem auf die Form der Verabreichung zurückzuführen
Bei dem Wirkstoff Nusinersen handelt es sich um ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid. „Diese kurzkettigen Nukleinsäuren können aus der Blutbahn nicht in ausreichender Menge in das Gehirn und Rückenmark gelangen, wo das SMN2-Gen benötigt wird“, erläutert der Hamburger Neuropädiater Denecke. Das Medikament muss daher durch eine Lumbalpunktion verabreicht werden. „Nur so kommt es in die Zellen des Nervensystems, die von dem Defekt des SMN1-Gens betroffen sind“, sagt Denecke.
Um einen anhaltenden Effekt zu erzielen, muss im Abstand von einigen Monaten wiederholt punktiert werden. „Aktuell sind zahlreiche Präparate für andere Erkrankungen in der Erprobung, die ebenfalls in den Hirnwasserraum appliziert werden müssen – allerdings in deutlich höherer Frequenz“, sagt Denecke. „Daher wären wir mit zwei bis drei Lumbalpunktionen im Jahr ausgesprochen zufrieden.“
Eine im Juni 2016 veröffentlichte Analyse einer Phase-1-Studie an 28 Patienten ergab, dass Nebenwirkungen der Therapie mit Nusinersen vor allem auf die Art der Verabreichung zurückzuführen sind – während das Medikament selbst sehr gut verträglich zu sein scheint.
68% der in der Studie vorgenommenen Lumbalpunktionen verliefen ohne Komplikationen. In 32% der Behandlungen kam es zu Nebenwirkungen. Am häufigsten waren Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Übelkeit, die zum Teil einige Tage lang anhielten. „Die beschriebenen Symptome sind typische Nebenwirkungen einer Lumbalpunktion“, sagt Denecke. Ernsthafte Komplikationen wie Infektionen oder neurologische Ausfälle seien bei dem Verfahren zwar möglich, aber ausgesprochen selten.
Im fortgeschrittenen Krankheitsstadium ist der Nutzen noch nicht belegt
Noch unklar ist, ob eine Therapie mit Nusinersen auch in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Krankheit noch sinnvoll ist. „Vor allem bei schwer erkrankten SMA-Patienten sind mit der Behandlung auch erhebliche Risiken durch Transport, Sedierung, Skoliose und andere Faktoren verbunden“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme der 3 deutschen Behandlungszentren in Freiburg, München und Essen.
Man halte es deshalb für sinnvoll, die jungen und noch nicht so schwer erkrankten Patienten mit Priorität zu behandeln: „Nur für diese Gruppe von Patienten liegen eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Nusinersen vor.“
Eltern sollten zunächst mit dem behandelnden Arzt besprechen, ob eine Therapie mit Nusinersen in Frage komme, rät der Freiburger Neuropädiater Kirschner. Letztendlich müsse dann in jedem Einzelfall gemeinsam mit einem der 3 Zentren entschieden werden, ob und wann eine Behandlung möglich und sinnvoll sei.
Um entsprechende Anfragen an die Behandlungszentren zu koordinieren und dadurch eine möglichst zeitnahe Behandlung der Patienten zu ermögliche, hat die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke eine Kontaktstelle eingerichtet.
REFERENZEN:
1. Universitätsklinikum Freiburg: Pressemitteilung, 14. November 2016
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Spinale Muskelatrophie Typ 1: Mit dem Wirkstoff Nusinersen ist die häufigste genetische Todesursache bei Kindern erstmals behandelbar - Medscape - 15. Dez 2016.
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