Berlin – Die aktuelle Versorgungs-Leitlinie Depression befürwortet bei rezidivgefährdeten Patienten die Langzeittherapie mit Antidepressiva. Doch ist bislang gar nicht klar, ob dies langfristig wirklich rückfallverhütend wirkt – oder nicht sogar depressogen und das Rezidivrisiko erhöht.
„Ein eklatanter Mangel an Wissen“ bestehe bei diesem Thema, konstatierte Prof. Dr. Henrik Walter, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Charité Berlin, beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkundein Berlin [1 ]. „Wie so oft in der Medizin gibt es kaum Langzeitstudien – die bisherigen dauern ein halbes Jahr oder ein Jahr, und was über zwei Jahre läuft, ist schon ein Kolibri.“
500 Prozent Verordnungsanstieg in 20 Jahren
Das hindert Ärzte nicht daran, mehr und mehr Antidepressiva zu verordnen: In den letzten 20 Jahren gab es laut Arzneiverordnungsreport 2015 einen Zuwachs von mehr als 500%. Und dies, „obwohl die Antidepressiva bei erwachsenen Patienten mit Major Depression häufig unzureichend wirken und bei Kindern und Jugendlichen fast gar nicht“, so Walter.
Eine kürzlich im Lancet erschienene Metaanalyse ergab nur für Fluoxetin bei jungen Patienten eine mäßig bessere Wirksamkeit als für Placebo und auch da nur bei moderater bis schwerer Depression. Daher halten die Autoren den Einsatz von Antidepressiva in dieser Patientengruppe nur für angebracht, wenn eine Psychotherapie nicht verfügbar ist oder nicht-pharmakologische Therapien keinen Effekt zeigen.
Dass das Absetzen von Antidepressiva mit einer erhöhten Rückfallrate einhergeht, ist unstrittig. Wobei sich die kritische Frage stellt: Ist dieses erhöhte Risiko womöglich auf die Wirkung der Antidepressiva selbst zurückzuführen? Viele Psychopharmaka haben derartige paradoxe Effekte.
Reboundeffekt versus Rückfallrisiko
Walter erinnerte daran, dass depressive Symptome nach Einnahme von Ecstasy beobachtet worden sind oder eine Zunahme von Angstsymptomen nach Anxiolytika-Absetzen – „warum sollte es bei Antidepressiva anders sein?“, meinte der Psychiater.
Tatsächlich ergab eine Analyse von placebokontrollierten Studien mit verschiedenen Antidepressiva, dass das Rückfallrisiko etwa doppelt so hoch ausfällt, wenn Patienten bei Studienende das Verum absetzen, als wenn sie von Placebo kommen. Die Steigerung der Rezidivrate scheint dabei umso ausgeprägter, je stärker das jeweilige Antidepressivum ins Neurotransmittersystem eingreift.
Die Überlegung ist, dass Antidepressiva durch Rezeptor-Hochregulation und Induktion intrazellulärer Signalkaskaden ein neues Gleichgewicht schaffen, das bei Absetzen zum Rebound führt. Das könnte außerdem zur Folge haben, dass sich im Laufe der Behandlung Toleranz einstellt, so dass die Wirksamkeit leidet oder die Patienten in eine bipolare Störung switchen.
Patienten warten mit dem Absetzen nicht auf ärztlichen Rat
Für Walter ergibt sich daraus als Konsequenz, dass nicht abrupt, sondern ausschleichend abgesetzt werden sollte. Allerdings machen die Patienten oft den Behandlern einen Strich durch diese Strategie.
„Die Erfahrung zeigt, dass Patienten ihre Antidepressiva absetzen, meistens ohne uns zu informieren“, sagte Walter. Selbst unter den kontrollierten Bedingungen einer klinischen Studie sind die Abbruchraten nicht selten höher als die Remissionsraten. So in STAR*D (Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression): Die Remissionsraten sanken von Therapiestufe 1 bis 4 von 25 auf 10%, während die Absetzraten von 27 auf 60% stiegen.
Vom Rezidiv abzugrenzen sind Entzugssymptome, wie sie etwa bei Therapie mit selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) auftreten können. Das Spektrum reicht von grippeähnlichen Symptomen und Diarrhöen über Benommenheit, Kopfschmerz und Agitation bis hin zu Angst und Dysphorie – die Differenzialdiagnose kann entsprechend schwierig sein, vor allem bei Symptompersistenz.
Die Symptome können je nach individueller Disposition Wochen bis Monate anhalten. Vor allem kurz wirksame Substanzen sind dafür prädestiniert, während das lang wirksame Fluoxetin praktisch nie Probleme mache, berichtete Walter.
Nach seiner Erfahrung treten die ersten Entzugserscheinungen bei den kurz wirksamen SSRI oft schon auf, wenn die Dosis reduziert wird: „Wer da keine Probleme bekommt, kann meistens rasch absetzen.“
Absetzstudie AIDA rekrutiert zurzeit Patienten
Ein Problem besteht darin, dass es nahezu unmöglich ist vorherzusagen, wer nach Absetzen rezidivieren wird und vielleicht von einer Langzeittherapie profitieren könnte. Es gibt keinerlei valide Prädiktoren für das Rückfallrisiko – weder patientenindividuelle Faktoren wie Alter oder Geschlecht noch krankheitsassoziierte Faktoren wie Dauer, Zahl der Episoden oder Krankheitstyp.
Die Charité hat deshalb gemeinsam mit Schweizer Kollegen die binationale Studie AIDA (Antidepressiva Absetzstudie) aufgelegt, die mehr Klarheit bringen soll. Die Patienten werden sowohl klinisch als auch neurobiologisch untersucht. „Wenn Antidepressiva positive Effekte haben, beispielsweise auf das neuronale Wachstum im Hippocampus, könnte Absetzen tatsächlich kontraproduktiv wirken“, meinte der Psychiater.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Antidepressiva absetzen – ein heikles Unterfangen mit hohem Rückfallrisiko - Medscape - 8. Dez 2016.
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