Berlin – Clean Eating, Superfoods, Detox-Diäten – vermeintlich gesunde Ernährungsformen finden immer mehr Zulauf. Gefährlich wird es, wenn der Wunsch nach gesunder Ernährung zwanghafte Züge annimmt und damit in eine Orthorexie übergeht.
Kontrollwille und Rituale prägen das Bild
Der Begriff Orthorexie wurde Ende der 1990er-Jahre geprägt und bezeichnet ein dysfunktionales Essverhalten mit Krankheitswert, erläuterte Dr. Martin Greetfeld, Oberarzt an der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin [1]. Nosologisch ist die Orthorexie zwischen Essstörungen und Zwang angesiedelt. Zu den Kernmerkmalen zählen neben der Fixierung auf vermeintlich gesunde Ernährung:
Angst, durch bestimmte Lebensmittel zu erkranken,
Einteilung von Lebensmitteln in „gesund“ und „ungesund“,
fehlende Balance bei der Lebensmittelauswahl,
Genussunfähigkeit und ideologische Einengung,
Kontrolle und Sicherheit durch ritualisiertes Essverhalten,
Rituale bei Lebensmittelzubereitung und Verzehr,
Angst vor Kontrollverlust und Selbstbestrafung bei Abweichung von den selbst auferlegten Ernährungsregeln,
soziale Isolation und Verlust an Lebensqualität.
Am Beispiel einer seiner Patientinnen zeigte Greetfeld, wohin die Reise gehen kann. Die 23-jährige Studentin hatte 2015 begonnen, sich auf gesunde Lebensmittel zu fokussieren, und schließlich auf vegane Kost umgestellt. Das entspreche ihrer ethischen Verantwortung, habe ihr ein gutes Lebensgefühl vermittelt und ihr Selbstwertgefühl gesteigert, argumentierte sie.
Doch aus der veganen Ernährung entwickelte sich rasch eine Orthorexie, wobei die vermeintlich gesunde und nachhaltige Ernährungsweise als Vorwand für immer mehr Restriktionen beim Essen herhalten musste. Im Sommer 2016 wurde die Patientin mit einer schweren Anorexie und einem Body Mass Index (BMI) von 13,5 kg/m2 stationär aufgenommen. „Zum Glück ist es uns gelungen, sie zu stabilisieren“, berichtete der Psychiater. Bei der Entlassung lag der BMI mit 18,5 kg/m2 im Normalbereich.
Prävalenz der Orthorexie in der Bevölkerung scheint niedrig
Zur Prävalenz der Orthorexie ist die Datenlage ausnehmend inkonsistent. Die Zahlen reichen von 2 bis über 50%, je nachdem welches Kollektiv mit welchem Messinstrument untersucht wurde. Für die Gesamtbevölkerung geht man zurzeit von Werten im niedrigen einstelligen Prozentbereich aus.
Greetfeld und seine Kollegen wollten wissen, ob es eine überzufällige Koinzidenz von orthorektischem Essverhalten einerseits, Anorexie, Bulimie und Zwangsstörungen andererseits gibt. Dazu befragten sie 437 Patienten bei Aufnahme in die Schön Klinik: 168 mit Anorexia nervosa, 148 mit einer depressiven Störung, 47 mit Bulimie und 41 mit einer Zwangsstörung.
Verwendet wurden die Fragebögen ORTHO-15 und Eating Habit Questionnaire (EHQ) sowie die Düsseldorfer Orthorexie-Skala (DOS), „noch das Beste unter den verfügbaren Messinstrumenten, die alle ihre Limitierungen haben“, so Greetfeld.
Anorexie- und Bulimie-Patienten ernähren sich oft vegetarisch
Auffällig war bereits der hohe Anteil an Vegetariern und Veganern unter essgestörten und Zwangspatienten, der sich bei der Gruppe mit Anorexia nervosa auf fast ein Viertel und bei Bulimie-Patienten auf etwa 20% belief (in der Normalbevölkerung: ca. 10%).
Eine Orthorexie wurde mithilfe der DOS bei 37,5% der Anorexie- und 25,5% der Bulimie-Kranken festgestellt. Bei Zwangspatienten kam sie dagegen mit 3,4% kaum häufiger vor als bei Depressiven oder in der Normalbevölkerung mit jeweils etwa 2%.
Interessant auch, welche Merkmale der Orthorexie bei den einzelnen Patientengruppen besonders hervorstachen. Bei Anorexie waren es vor allem die starren Ernährungsregeln und die Fixierung auf „gesunde“ Lebensmittel, während bei Bulimie die Selbstvorwürfe bei Regelverletzung besonderes Gewicht hatten.
Depressions- und Zwangskranke ähnelten sich, bei beiden standen gesunde Ernährung und Selbstwertstabilisierung durch Kontrolle über die Ernährung neben einer ausgeprägten narzisstischen Komponente im Vordergrund.
Die Assoziation von Essstörungen mit Orthorexie scheint damit klar belegt, die Kausalität hingegen nicht. „Ob orthorektisches Ernährungsverhalten einen Risikofaktor für psychische Erkrankungen und insbesondere Essstörungen darstellt, müssen longitudinale Studien zeigen“, meinte Greetfeld.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Treibt der Wunsch, gesund zu essen, Menschen in Bulimie und Magersucht? - Medscape - 6. Dez 2016.
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