Das Dabigatran-Antidot Idarucizumab wirkt blitzschnell – aber wie nützlich ist es tatsächlich im klinischen Alltag?

Interessenkonflikte

1. Dezember 2016

New Orleans — Das Antidot Idarucizumab  (Praxbind®, Boehringer  Ingelheim) hat in einer Analyse von 500 antikoagulierten Patienten, die schwere  Blutungen hatten oder dringend operiert werden mussten, die Wirkung des  Thrombinhemmers Dabigatran (Pradaxa®,  Boehringer Ingelheim) fast sofort aufgehoben. Die Reversierung hielt 2 Tage an.

Die Patienten der Studienkohorte,  die den typischen Patienten in der klinischen Praxis relativ gut widerspiegeln,  erreichten innerhalb von 4 Stunden nach Verabreichung des Antidots Hämostase.  In praktisch allen Fällen normalisierten sich die Koagulationsparameter. Und  die meisten Patienten begannen innerhalb von Tagen wieder mit der oralen  Antikoagulation, zumeist mit Dabigatran.

„Verabreicht man Idarucizumab, ist buchstäblich  innerhalb von Sekunden eine aufgehobene Wirkung von Dabigatran zu beobachten.  Es passiert fast verzögerungsfrei“, sagte Dr.  Charles V. Pollack von der Thomas Jefferson University in Philadelphia,  Erstautor der Reversal Effects of Idarucizumab in  Patients on Active Dabigatran (RE-VERSE AD)-Studie  gegenüber Medscape. Es werden  nacheinander 2 Bolusdosen gegeben, die vollständige Reversierung der  Dabigatran-Wirkung ist nach 10 Minuten erreicht, wobei der Effekt auch nach 48  Stunden noch nachweisbar ist, sagte er. Pollack präsentierte die RE-VERSE AD-Analyse,  eine Aktualisierung, die fast alle Studienpatienten umfasst und mit früheren Berichten über kleinere  Patientenzahlen konsistent ist, bei den American Heart Association 2016  Scientific Sessions [1].

Idarucizumab wurde  letztes Jahr in den USA und in Europa zugelassen. Die Zulassung von Andexanet  alfa (AndexXa®,  Portola Pharmaceuticals), einem Antidot für eine andere Klasse von direkten  oralen Antikoagulantien (NOAK) – den Faktor-Xa-Inhibitoren – wird bald  erwartet. Zu dieser NOAK-Klasse zählen Apixaban (Eliquis®,Bristol-Myers Squibb), Edoxaban (Savaysa/Lixiana®, Daiichi Sankyo) und Rivaroxaban (Xarelto®, Bayer/Janssen  Pharmaceuticals).

Studienergebnisse auf „echte Patienten” im  klinischen Alltag übertragbar

Die Ergebnisse von  RE-VERSE AD „sind überwältigend überzeugend”, sagte Diskussionsteilnehmer Dr. Christian T. Ruff vom Brigham and  Women's Hospital in Boston nach Pollacks offizieller Präsentation der Studie.  Und Idarucizumab „ist mit Gewissheit sicher, was sehr beruhigend ist“, ergänzte  er. „Meiner Meinung nach macht dies Idarucizumab zur Erstlinienbehandlung von  Patienten, die Dabigatran nehmen, und sich in einer lebensbedrohlichen  Situation befinden, entweder aufgrund einer schweren Blutung oder weil sie  dringend einen operativen Eingriff benötigen.“

Ruff sagte, die  Einschlusskriterien der Studie seien innerhalb dieser beiden Patientenkategorien  ausgeglichen gewesen. „Das ist bedeutsam, denn ich denke, deshalb sind die Ergebnisse auf echte  Patienten im klinischen Alltag übertragbar.“

Die Studie umfasste 2 Patientengruppen, die die wahrscheinlichsten Indikationen für das Antidot widerspiegeln:  298 in Gruppe A (mit unkontrollierten Blutungen) und 196 in Gruppe B  (benötigten eine dringende Operation). Fast alle Patienten wurden aufgrund von  Vorhofflimmern mit einem DOAK behandelt. Im Mittel lag die letzte  Dabigatran-Dosis 14,2 (Gruppe A) bzw. 18 (Gruppe B) Stunden zurück. Etwa 62%  der Patienten in beiden Gruppen nahmen 2-mal täglich 110 mg Dabigatran ein,  fast der gesamte Rest erhielt 2-mal täglich 150 mg.

 
Verabreicht man Idarucizumab, ist buchstäblich innerhalb von Sekunden eine aufgehobene Wirkung von Dabigatran zu beobachten.   Dr. Charles V. Pollack
 

Die schweren Blutungen in  Gruppe A waren in 135 Fällen gastrointestinal und in 97 Fällen intrakraniell.  Der Rest verteilte sich auf eine Vielzahl anderer Stellen. Die Indikationen für  Notfalloperationen waren akutes Abdomen bei 45 Patienten, Knochenbrüche bei 30 Patienten, Infektionen bei 20 Patienten und die Implantation eines Herzschrittmachers  bei 10 Patienten.

Wie es in der Praxis eingesetzt werden könnte

Offen ist, welche  Patienten mit Blutungen oder dringendem Operationsbedarf tatsächlich ein  Antidot für ein wirksames Management benötigen.

„Ich denke, es ist  nützlich, [aber] ich glaube auch, dass wir noch etwas mehr Erfahrungen sammeln  müssen, bevor wir wissen, wie nützlich es in der täglichen klinischen Praxis  ist“, sagte der Notfallmediziner Dr.  Graham Nichol von der University of Washington in Seattle – selbst nicht an  der Studie beteiligt – gegenüber Medscape.

„Ein Problem ist, dass  das Medikament ziemlich teuer ist, aber ich würde es bei jemandem mit schwerem  Trauma oder einer Gehirnblutung einsetzen“, sagte Nichol. „Mit der Umstellung  von Warfarin auf orale Antikoagulanzien sehen wir inzwischen immer mehr von  diesen Patienten.“

Dr. Gordon F. Tomaselli von der Johns Hopkins  University in Baltimore sagte: „Wenn mit einem Eingriff eine aktive Blutung  gestoppt werden soll, ist das in einem gefäßreichen Raum ein Problem. Ich denke,  das ist wahrscheinlich zumindest ein Grund, den Einsatz eines Antidots in  Betracht zu ziehen.“

Einige der dringenden  Eingriffe, denen sich die RE-VERSE AD-Patienten unterzogen, „verlangen  wahrscheinlich nach einer Aufhebung der Antikoagulation“, aber „wir setzen  andauernd bei Leuten unter voller Antikoagulation Schrittmacher ein, also  müssen wir das nicht wirklich machen“, sagte Tomaselli, der nicht an der Studie  beteiligt war, gegenüber Medscape.

„Ein schwerwiegendes  klinisches Problem sind meiner Meinung nach intrakranielle Blutungen. Egal wie  schnell das Antidot wirkt, wenn es sich um eine schwere intrakranielle Blutung  handelt, denke ich nicht, dass irgendein Antidot einen großen Unterschied  machen wird. Man hat sehr wenig Zeit, um ein solches Problem in Ordnung zu  bringen.“

Trotzdem, so Tomaselli,  werde Idarucizumab wahrscheinlich „als Erstlinienbehandlung bei Patienten unter  Dabigatrantherapie, die Blutungen haben oder eine Operation benötigen, zum  Einsatz kommen. “ Er spekuliert: „Angesichts dessen, dass die anderen DOAK  vorerst noch kein Antidot haben, stellt sich die Frage: Wird man die Leute  jetzt – da es ein Antidot für Dabigatran gibt – für den Übergangszeitraum von  den anderen Substanzen auf Dabigatran umstellen? Vielleicht.“

„Da wir wissen, dass es  ein Antidot gibt, werden wir anfangen, [DOAK] bei weniger selektierten  Patienten einzusetzen und damit das Blutungsrisiko insgesamt bei Patienten, die  diese Medikamente bekommen, erhöhen – weil es ein Antidot gibt? Das ist eine  Verschiebung des Verschreibungsmusters, von der man erwarten könnte, dass sie  passiert.“

Ruff prognostiziert, dass  „eine der größten Auswirkungen“ der Verfügbarkeit eines Antidots die  Rückversicherung sein werde. Vielleicht, sagte er, „können wir nun endlich auch  die 30 bis 40% der Patienten behandeln, bei denen wir bislang eine  Antikoagulation noch nicht einmal ausprobiert haben, weil wir dachten, dass sie  dafür zu gebrechlich sind.“

Auf der anderen Seite,  warnt er, „man kann das Antikoagulans aus der Gleichung nehmen, und es gibt eine  Notwendigkeit dies zu tun, aber damit tut man nichts für die Gefäßintegrität  bei einem blutenden Patienten oder gegen die beträchtlichen  Begleiterkrankungen, die Patienten in lebensbedrohlichen Situationen oft  mitbringen“.

 
Die Ergebnisse sind auf echte Patienten im klinischen Alltag übertragbar. Dr. Christian T. Ruff
 

Open Label und ohne Kontrollen

Die Patienten aus 173  Zentren in 39 Ländern erhielten 5 g Idarucizumab intravenös in 2 aufeinander  folgenden Open-label-Bolusdosen und wurden 90 Tage nachbeobachtet. Eine  Kontrollgruppe gab es aus ethischen Gründen nicht.

Die Aufhebung der  Dabigatranwirkung wurde auf 2 Arten gemessen und in einem zentralen Labor  evaluiert. Die verdünnte  Thrombinzeit (diluted thrombin time, DTT) normalisierte sich innerhalb von 4  Stunden bei 98,7% der Patienten in Gruppe A und 98,6% der Patienten in Gruppe  B. Die Ecarin-Clotting-Time (ECT; zur quantitativen Bestimmung von direkten  Thrombininhibitoren) normalisierte sich innerhalb von 4 Stunden bei 81,5% der  Patienten in Gruppe A und 83,5% der Patienten in Gruppe B. Die Zeit bis zur  Hämostase – beurteilt von den Ärzten – betrug 3,5 bzw. 4,5 Stunden.

In Gruppe A nahmen 72%  der Patienten die Antikoagulationstherapie – in 2 Dritteln der Fälle mit  Dabigatran – im Mittel 5,3 Tage nach Gabe des Antidots wieder auf. In der  operativen Gruppe B betrug die Rate 90% nach einem „bemerkenswerten“ Mittel von  1,2 Tagen, sagte Pollack.

Adjustierte thrombotische Ereignisse nach  Idarucizumab in RE-VERSE AD

           

Endpunkte

           
           

Gruppe A, n = 298 (%)

           
           

Gruppe B, n = 196 (%)

           
           

Thrombotische Ereignisse

           
           

30    Tage

           
           

4,4

           
           

4,6

           
           

90    Tage

           
           

6,0

           
           

6,6

           
           

Mortalität

           
           

30    Tage

           
           

12,3

           
           

12,4

           
           

90    Tage

           
           

18,7

           
           

18,5

           

Gruppe A: unkontrollierte Blutungen
Gruppe B: Notfalloperation

 

 

 

Die adjustierte  30-Tages-Rate an thrombotischen Ereignissen betrug etwa 4,5%; zu den meisten  Ereignissen kam es im Zeitraum zwischen der Gabe von Idarucizumab und der  Wiederaufnahme der Antikoagulation. Es waren 8 ischämische Schlaganfälle, 7 Fälle von tiefer Venenthrombose, 7 Herzinfarkte, 4 Lungenembolien und 4 Fälle  von sowohl Lungenembolie als auch tiefer Venenthrombose.

Die Studien mit  Andexanet, dem experimentellen Faktor-Xa-Inhibitor-Antidot, haben keine  präoperativen Patienten eingeschlossen, auch wenn sie dies künftig  wahrscheinlich tun werden, merkte Pollack im Gespräch an. „Sie haben kein  Äquivalent zu unserer Gruppe B“, sagte er, deshalb werde die Zulassung anfangs  die Indikation Notfalloperation nicht umfassen. Zumindest vorerst ist „unser  Antidot ein bisschen mehr ‚one size fits all'."


Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

REFERENZEN:

1. Scientific Session 2016 der American  Heart Association, 12. bis 16. November 2016, New Orleans/USA

 

Kommentar

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