New Orleans — Das Antidot Idarucizumab (Praxbind®, Boehringer Ingelheim) hat in einer Analyse von 500 antikoagulierten Patienten, die schwere Blutungen hatten oder dringend operiert werden mussten, die Wirkung des Thrombinhemmers Dabigatran (Pradaxa®, Boehringer Ingelheim) fast sofort aufgehoben. Die Reversierung hielt 2 Tage an.
Die Patienten der Studienkohorte, die den typischen Patienten in der klinischen Praxis relativ gut widerspiegeln, erreichten innerhalb von 4 Stunden nach Verabreichung des Antidots Hämostase. In praktisch allen Fällen normalisierten sich die Koagulationsparameter. Und die meisten Patienten begannen innerhalb von Tagen wieder mit der oralen Antikoagulation, zumeist mit Dabigatran.
„Verabreicht man Idarucizumab, ist buchstäblich innerhalb von Sekunden eine aufgehobene Wirkung von Dabigatran zu beobachten. Es passiert fast verzögerungsfrei“, sagte Dr. Charles V. Pollack von der Thomas Jefferson University in Philadelphia, Erstautor der Reversal Effects of Idarucizumab in Patients on Active Dabigatran (RE-VERSE AD)-Studie gegenüber Medscape. Es werden nacheinander 2 Bolusdosen gegeben, die vollständige Reversierung der Dabigatran-Wirkung ist nach 10 Minuten erreicht, wobei der Effekt auch nach 48 Stunden noch nachweisbar ist, sagte er. Pollack präsentierte die RE-VERSE AD-Analyse, eine Aktualisierung, die fast alle Studienpatienten umfasst und mit früheren Berichten über kleinere Patientenzahlen konsistent ist, bei den American Heart Association 2016 Scientific Sessions [1].
Idarucizumab wurde letztes Jahr in den USA und in Europa zugelassen. Die Zulassung von Andexanet alfa (AndexXa®, Portola Pharmaceuticals), einem Antidot für eine andere Klasse von direkten oralen Antikoagulantien (NOAK) – den Faktor-Xa-Inhibitoren – wird bald erwartet. Zu dieser NOAK-Klasse zählen Apixaban (Eliquis®,Bristol-Myers Squibb), Edoxaban (Savaysa/Lixiana®, Daiichi Sankyo) und Rivaroxaban (Xarelto®, Bayer/Janssen Pharmaceuticals).
Studienergebnisse auf „echte Patienten” im klinischen Alltag übertragbar
Die Ergebnisse von RE-VERSE AD „sind überwältigend überzeugend”, sagte Diskussionsteilnehmer Dr. Christian T. Ruff vom Brigham and Women's Hospital in Boston nach Pollacks offizieller Präsentation der Studie. Und Idarucizumab „ist mit Gewissheit sicher, was sehr beruhigend ist“, ergänzte er. „Meiner Meinung nach macht dies Idarucizumab zur Erstlinienbehandlung von Patienten, die Dabigatran nehmen, und sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden, entweder aufgrund einer schweren Blutung oder weil sie dringend einen operativen Eingriff benötigen.“
Ruff sagte, die Einschlusskriterien der Studie seien innerhalb dieser beiden Patientenkategorien ausgeglichen gewesen. „Das ist bedeutsam, denn ich denke, deshalb sind die Ergebnisse auf echte Patienten im klinischen Alltag übertragbar.“
Die Studie umfasste 2 Patientengruppen, die die wahrscheinlichsten Indikationen für das Antidot widerspiegeln: 298 in Gruppe A (mit unkontrollierten Blutungen) und 196 in Gruppe B (benötigten eine dringende Operation). Fast alle Patienten wurden aufgrund von Vorhofflimmern mit einem DOAK behandelt. Im Mittel lag die letzte Dabigatran-Dosis 14,2 (Gruppe A) bzw. 18 (Gruppe B) Stunden zurück. Etwa 62% der Patienten in beiden Gruppen nahmen 2-mal täglich 110 mg Dabigatran ein, fast der gesamte Rest erhielt 2-mal täglich 150 mg.
Die schweren Blutungen in Gruppe A waren in 135 Fällen gastrointestinal und in 97 Fällen intrakraniell. Der Rest verteilte sich auf eine Vielzahl anderer Stellen. Die Indikationen für Notfalloperationen waren akutes Abdomen bei 45 Patienten, Knochenbrüche bei 30 Patienten, Infektionen bei 20 Patienten und die Implantation eines Herzschrittmachers bei 10 Patienten.
Wie es in der Praxis eingesetzt werden könnte
Offen ist, welche Patienten mit Blutungen oder dringendem Operationsbedarf tatsächlich ein Antidot für ein wirksames Management benötigen.
„Ich denke, es ist nützlich, [aber] ich glaube auch, dass wir noch etwas mehr Erfahrungen sammeln müssen, bevor wir wissen, wie nützlich es in der täglichen klinischen Praxis ist“, sagte der Notfallmediziner Dr. Graham Nichol von der University of Washington in Seattle – selbst nicht an der Studie beteiligt – gegenüber Medscape.
„Ein Problem ist, dass das Medikament ziemlich teuer ist, aber ich würde es bei jemandem mit schwerem Trauma oder einer Gehirnblutung einsetzen“, sagte Nichol. „Mit der Umstellung von Warfarin auf orale Antikoagulanzien sehen wir inzwischen immer mehr von diesen Patienten.“
Dr. Gordon F. Tomaselli von der Johns Hopkins University in Baltimore sagte: „Wenn mit einem Eingriff eine aktive Blutung gestoppt werden soll, ist das in einem gefäßreichen Raum ein Problem. Ich denke, das ist wahrscheinlich zumindest ein Grund, den Einsatz eines Antidots in Betracht zu ziehen.“
Einige der dringenden Eingriffe, denen sich die RE-VERSE AD-Patienten unterzogen, „verlangen wahrscheinlich nach einer Aufhebung der Antikoagulation“, aber „wir setzen andauernd bei Leuten unter voller Antikoagulation Schrittmacher ein, also müssen wir das nicht wirklich machen“, sagte Tomaselli, der nicht an der Studie beteiligt war, gegenüber Medscape.
„Ein schwerwiegendes klinisches Problem sind meiner Meinung nach intrakranielle Blutungen. Egal wie schnell das Antidot wirkt, wenn es sich um eine schwere intrakranielle Blutung handelt, denke ich nicht, dass irgendein Antidot einen großen Unterschied machen wird. Man hat sehr wenig Zeit, um ein solches Problem in Ordnung zu bringen.“
Trotzdem, so Tomaselli, werde Idarucizumab wahrscheinlich „als Erstlinienbehandlung bei Patienten unter Dabigatrantherapie, die Blutungen haben oder eine Operation benötigen, zum Einsatz kommen. “ Er spekuliert: „Angesichts dessen, dass die anderen DOAK vorerst noch kein Antidot haben, stellt sich die Frage: Wird man die Leute jetzt – da es ein Antidot für Dabigatran gibt – für den Übergangszeitraum von den anderen Substanzen auf Dabigatran umstellen? Vielleicht.“
„Da wir wissen, dass es ein Antidot gibt, werden wir anfangen, [DOAK] bei weniger selektierten Patienten einzusetzen und damit das Blutungsrisiko insgesamt bei Patienten, die diese Medikamente bekommen, erhöhen – weil es ein Antidot gibt? Das ist eine Verschiebung des Verschreibungsmusters, von der man erwarten könnte, dass sie passiert.“
Ruff prognostiziert, dass „eine der größten Auswirkungen“ der Verfügbarkeit eines Antidots die Rückversicherung sein werde. Vielleicht, sagte er, „können wir nun endlich auch die 30 bis 40% der Patienten behandeln, bei denen wir bislang eine Antikoagulation noch nicht einmal ausprobiert haben, weil wir dachten, dass sie dafür zu gebrechlich sind.“
Auf der anderen Seite, warnt er, „man kann das Antikoagulans aus der Gleichung nehmen, und es gibt eine Notwendigkeit dies zu tun, aber damit tut man nichts für die Gefäßintegrität bei einem blutenden Patienten oder gegen die beträchtlichen Begleiterkrankungen, die Patienten in lebensbedrohlichen Situationen oft mitbringen“.
Open Label und ohne Kontrollen
Die Patienten aus 173 Zentren in 39 Ländern erhielten 5 g Idarucizumab intravenös in 2 aufeinander folgenden Open-label-Bolusdosen und wurden 90 Tage nachbeobachtet. Eine Kontrollgruppe gab es aus ethischen Gründen nicht.
Die Aufhebung der Dabigatranwirkung wurde auf 2 Arten gemessen und in einem zentralen Labor evaluiert. Die verdünnte Thrombinzeit (diluted thrombin time, DTT) normalisierte sich innerhalb von 4 Stunden bei 98,7% der Patienten in Gruppe A und 98,6% der Patienten in Gruppe B. Die Ecarin-Clotting-Time (ECT; zur quantitativen Bestimmung von direkten Thrombininhibitoren) normalisierte sich innerhalb von 4 Stunden bei 81,5% der Patienten in Gruppe A und 83,5% der Patienten in Gruppe B. Die Zeit bis zur Hämostase – beurteilt von den Ärzten – betrug 3,5 bzw. 4,5 Stunden.
In Gruppe A nahmen 72% der Patienten die Antikoagulationstherapie – in 2 Dritteln der Fälle mit Dabigatran – im Mittel 5,3 Tage nach Gabe des Antidots wieder auf. In der operativen Gruppe B betrug die Rate 90% nach einem „bemerkenswerten“ Mittel von 1,2 Tagen, sagte Pollack.
Adjustierte thrombotische Ereignisse nach Idarucizumab in RE-VERSE AD
Endpunkte |
Gruppe A, n = 298 (%) |
Gruppe B, n = 196 (%) |
Thrombotische Ereignisse |
||
30 Tage |
4,4 |
4,6 |
90 Tage |
6,0 |
6,6 |
Mortalität |
||
30 Tage |
12,3 |
12,4 |
90 Tage |
18,7 |
18,5 |
Gruppe A: unkontrollierte Blutungen
Gruppe B: Notfalloperation
Die adjustierte 30-Tages-Rate an thrombotischen Ereignissen betrug etwa 4,5%; zu den meisten Ereignissen kam es im Zeitraum zwischen der Gabe von Idarucizumab und der Wiederaufnahme der Antikoagulation. Es waren 8 ischämische Schlaganfälle, 7 Fälle von tiefer Venenthrombose, 7 Herzinfarkte, 4 Lungenembolien und 4 Fälle von sowohl Lungenembolie als auch tiefer Venenthrombose.
Die Studien mit Andexanet, dem experimentellen Faktor-Xa-Inhibitor-Antidot, haben keine präoperativen Patienten eingeschlossen, auch wenn sie dies künftig wahrscheinlich tun werden, merkte Pollack im Gespräch an. „Sie haben kein Äquivalent zu unserer Gruppe B“, sagte er, deshalb werde die Zulassung anfangs die Indikation Notfalloperation nicht umfassen. Zumindest vorerst ist „unser Antidot ein bisschen mehr ‚one size fits all'."
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Scientific Session 2016 der American Heart Association, 12. bis 16. November 2016, New Orleans/USA
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Das Dabigatran-Antidot Idarucizumab wirkt blitzschnell – aber wie nützlich ist es tatsächlich im klinischen Alltag? - Medscape - 1. Dez 2016.
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