Berlin – Er gehört zu den schwierigsten Patienten in der Hausarzt-Praxis. „Der anstrengende Patient ist wieder da“, kündigt ihn die Helferin an. Patienten mit somatoformen Störungen werden mit verschiedensten körperlichen Symptomen und Diagnosen vorstellig: Colon irritabile, Rückenschmerz, Hyperventilationssyndrom, Fibromyalgie, nichtkardialer Brustschmerz, Spannungskopfschmerz, temporomandibuläre Dysfunktion, prämenstruelles Syndrom sind nur einige.
Und die gibt es dann meist im Paket: „Wer ein funktionelles Syndrom hat, hat zu 80 Prozent noch ein weiteres“, erläuterte Prof. Dr. Winfried Rief beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin [1]. Der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Philipps-Universität Marburg gab gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Peter Henningsen, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München, Tipps zum Umgang mit diesen anspruchsvollen Patienten.
Ansprüche des Patienten relativieren
In der Regel sind Sie nicht der erste Arzt, den er aufsucht. Der Patient ist von den organischen Ursachen seiner Beschwerden überzeugt, doch keiner Ihrer Kollegen konnte ihm bisher helfen. Mit unrealistischen Behandlungserwartungen schlägt er bei Ihnen auf. Sie sollen es nun besser machen.
„Als Arzt ist man dann oft unsicher über das angemessene Verhalten“, so Henningsen. Aber: „Übernehmen Sie auf keinen Fall die hohen Erwartungen an Sie als Behandler“, warnt er. Denn ihre Entwertung folgt auf dem Fuß, wenn der Patient enttäuscht wird. Gleichzeitig findet eine negative Gegenübertragung statt. Sie empfinden den Patienten als nervig, schicken ihn vielleicht, damit Ruhe ist, zur x-ten Bildgebung, zum CT oder MRT, zum Facharzt – was aber beim Patienten wiederum fixiert, dass hinter seinen Beschwerden eben doch was Ernstes steckt und so eine iatrogene Chronifizierung begünstigt wird.
„Die Initialphase ist entscheidend. Kommunikation ist alles“, betonte Henningsen. „Relativieren Sie die hohen Ansprüche an Sie“, rät er. „Nehmen Sie die Symptome organisiert entgegen“ – und versuchen Sie allmählich die Erklärungsmodelle des Patienten per tangentialer Gesprächsführung zu erweitern, sie auch in einen psychosozialen Kontext zu stellen. Ihre Haltung und ihr Umgang mit dem Patienten sind von zentraler Bedeutung für den Erfolg, bekräftigt der Psychotherapeut: „Sie sollten um die Schwierigkeiten wissen, den Patienten ernst nehmen und sich zuständig fühlen. Als Hausarzt haben Sie große Chancen, denn Sie können ihn ganzheitlich betrachten.“
Wie Somatisierung entsteht und wie man als Arzt damit umgehen sollte
Wie kommt es zur Somatisierung? Rief erläuterte: „Somatische Beschwerden können gelernt werden.“ Oft haben die Patienten dort „vulnerable Regionen“, wo sie bereits einmal erkrankt waren. Schonverhalten und eine Neigung zur Katastrophisierung prädestinieren zur Somatisierung. Der Patient durchläuft einen Prozess der Chronifizierung: Im Laufe dieses Prozesses kommt es zur somatosensorischen Verstärkung – die fokussierte Aufmerksamkeit lässt die Gesundheitsstörung immer größer erscheinen. Aus Studien weiß man, berichtete Rief, der Placebo-Forschung betreibt, dass sich allein durch Schmerzerwartung im Hirn das Schmerzempfinden einschalten lässt. „Die Erwartungshaltung wird chronisch und bleibt dann auch.“
Doch die gute Nachricht: Dieses chronifizierte Verhalten bei der Somatisierung lässt sich modifizieren. „Man kann die Erwartungen modulieren.“ Riefs Tipp: Die Beschwerden entpathologisieren, der Katastrophisierung entgegen wirken. Durch eine Erwartungs-„Verletzung“ könne „im Gehirn ein Update“ gemacht werden. So hatten z.B. Patienten mit Somatisierung in einer Studie ein Belastungs-EKG zur Abklärung erhalten – ihre Erwartungen (gleich möglicherweise die Diagnose einer schweren Herzerkrankung zu erhalten) wurden dadurch positiv moduliert, dass sie vor der Untersuchung informiert wurden, dass einem Brustschmerz sehr häufig keine schwerwiegenden Ursachen zugrunde liegen.
Dagegen gelte es eine ungünstige Beeinflussung zu vermeiden. Also nicht: „Wir machen jetzt erstmal ein MRT, dann sehen wir was rauskommt.“ Denn dann ist der Patient enttäuscht, wenn „nichts“ rauskommt. Sondern stattdessen vorher: „Ich bin zu 98 Prozent sicher, dass nichts Ernstes dahinter steckt, aber wir können ein MRT machen …“
Weitere Tipps von Rief und Henningsen:
Den Patienten nicht rigide psychologisieren! Henningsen dazu: „Je mehr er sich am Anfang in die Psycho-Ecke gedrängt fühlt, umso schwieriger wird es, weil sein Widerstand geweckt wird!“
Arbeiten Sie mit den Diagnosen und Symptomen, nicht dagegen!
Schauen Sie nicht nur auf eines der Symptome, sondern auf alle – genaue Exploration auch anderer Symptome!
Ein früher Blick auf das Erleben des Patienten lohnt – achten Sie auf Angst, Depressivität und dysfunktionales Verhalten!
Beachten Sie Hinweise auf psychosoziale Assoziationen und Zeichen für Katastrophisierung!
Versuchen Sie, Erwartungen therapeutisch zu beeinflussen, positive Erwartungen zu verstärken!
Iatrogene Verstärkung vermeiden! Repetitive Diagnostik reduzieren!
Und die Kompetenz des Patienten im Umgang mit den Beschwerden und seine Fähigkeit, die Symptome auszuhalten, verbessern!
Psychotherapie wirkt, aber der Effekt ist nicht groß
Henningsen gab noch Empfehlungen zur Therapie. Zunächst geht es darum zu entscheiden, was therapeutisch relevant ist. Die somatischen Symptome oder die psychischen Konflikte und der psychosoziale Kontext? „Das ist bei jedem Patienten unterschiedlich“, so Henningsen. „Die Beschwerden verändern sich im Prozess der Chronifizierung, aber auch die Beziehungserfahrungen der Patienten mit unterschiedlichen Ärzten verändern sein Verhalten – und damit ändern sich auch die therapeutischen Aufgaben“, erläuterte er. Die Empfehlung laute heute: sowohl als auch hinsichtlich somatischer und psychologischer Therapie, dies in Form einer „stepped care“. „Bei diesen Patienten ist Bewältigung und nicht Heilung das Ziel.“
Laut der deutschen S3-Leitlinien ist die Evidenz zur Wirkung der kognitiven Verhaltenstherapie am besten. Auch 2 Cochrane-Reviews bestätigen, Psychotherapie wirkt signifikant – doch die klinische Effektstärke ist nicht so groß. Schon 12 Therapiestunden sind effektiv – auch anhaltend. Dagegen werden mit Antidepressiva nur kurzfristige Effekte erzielt und auch hier ist die Qualität der Evidenz gering. Das Gleiche gelte für Opioide, Gabapentin oder Pregabalin, mit denen viele Patienten vorbehandelt seien. Und Henningsen warnte: Vorsicht, Patienten mit Somatisierung sind besonders anfällig für Medikamenten-Nebenwirkungen!
Es gibt auch Studien, die Hausarzt-Schulungen getestet haben. Diese sollten lernen, wie sie die Patienten „umpolen – auf Psycho statt Somato“, berichtete Henningsen. Doch: Auch die Schulungen erwiesen sich in punkto Patienten „nicht als Renner“ – „sie waren wohl zu simpel“. Aber immerhin hatten sie Effekte auf die Ärzte, sie fühlten sich besser und konnten besser mit der Situation umgehen.
Eine weitere Grundregel, „die gut empirisch geprüft ist“, sei, die Patienten zu aktivieren und nicht zu schonen. Ihm positive Erklärungen zu bieten – „Ich weiß, dass dies belastend für Sie ist.“ – und ihn bei Chronifizierung regelmäßig einzubestellen.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Somatoforme Störungen: Der anstrengende Patient in der Praxis – so gehen Sie mit ihm um - Medscape - 25. Nov 2016.
Kommentar