Berlin – Innerhalb der letzten 10 Jahre hat sich die Zahl der Operationen an der Wirbelsäule in Deutschland mehr als verdoppelt. Das zeigt z.B. die Erfassung dieser Eingriffe durch die Gesundheitsberichterstattung des Bundes mit aktuellen Zahlen bis 2015. Ein immer wieder zu hörender Kritikpunkt: Sehr oft werde unnötig operiert und für die Steigerung der Eingriffe seien überwiegend finanzielle Interessen von Kliniken und Chirurgen verantwortlich. Ganz andere Erklärungen dafür gab es allerdings bei einer Pressekonferenz anlässlich des diesjährigen Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in Berlin [1].
OP-Weltmeister Deutschland? Altersstandardisierung ergibt ein anderes Bild

Prof. Dr. Frank Kandziora
„Steigende Operationszahlen gibt es nicht nur überall in Deutschland, sondern in ganz vielen Ländern der Welt, selbst im stark regulierten Gesundheitssystem Großbritanniens“, sagte Prof. Dr. Frank Kandziora von der BG-Unfallklinik Frankfurt am Main, Vorsitzender der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). Im Jahr 2013 hatte eine OECD-Studie Daten präsentiert, nach denen in Deutschland so viel operiert werde wie in kaum einem anderen Industrieland.
„Werden diese Daten jedoch altersbezogen analysiert“, so Kandziora, „dann stellt man schnell fest, dass wir weder OP-Weltmeister noch OP-Europameister sind, sondern uns im Mittelfeld der westeuropäischen Länder bewegen.“ Zu entsprechenden Ergebnissen kam auch eine Analyse des wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung, die im letzten Jahr erschienen ist.
Die demographische Entwicklung mit zunehmender Lebenserwartung zählt für den Frankfurter Experten denn auch zu den wichtigsten (von zahlreichen) Gründen, warum die Operationszahlen weltweit steigen. So hätten mit 60 Jahren etwa 2 bis 3% der Patienten eine Spinalkanalstenose, mit 70 seien es 10 bis 15%, und mit 80 sei es bereits jeder Zweite in unserer Bevölkerung. „Die Wirbelsäulenchirurgie ist überproportional von diesem Alterungsprozess betroffen.“
Bertelsmann-Studie Rückenschmerz: Erwartungshaltung des Patienten bestimmt zu oft Diagnose und Therapie Im Jahr 2015 haben Ärzte in Deutschland mehr als 6 Millionen Aufnahmen (Röntgen, CT, MRT) bei Patienten mit Rückenschmerzen veranlasst – viele wären vermeidbar, so das Ergebnis des aktuellen Faktencheck Rücken der Bertelsmann Stiftung. Oft gäben Ärzte vorschnell den Wünschen und (falschen) Erwartungen der Patienten nach, so das Fazit der Studienautoren. Denn in der Bevölkerung herrschen falsche Vorstellungen: In einer repräsentativen EMNID-Umfrage unter 7 Millionen GKV-Versicherten, die Teil der Studie war, sagten 60% sie erwarteten bei Rückenschmerzen „schnellstmöglich“ eine bildgebende Untersuchung. 69% waren der Ansicht durch die Bildgebung lasse sich die genaue Ursache des Schmerzes finden. Tatsächlich lassen sich im Schnitt aber nur bei rund 15% der Rückenschmerz-Patienten spezifische Ursachen feststellen. 85% der akuten Rückenschmerzen gelten als medizinisch unkompliziert und nicht spezifisch. Daher empfehlen Leitlinien auch zunächst konservative Therapie – Aktivierung statt Schonung oder Bettruhe, Schmerzbehandlung und Physiotherapie – und im ersten Quartal keine Bildgebung, wenn keine „red flags“, also Warnhinweise, vorliegen. Trotzdem erfolgt laut der Bertelsmann-Studie bei 22% der Patienten bereits eine Bildgebung im Quartal der Diagnose, 43% wurde von ihrem Arzt „Ruhe und Schonung“ empfohlen. |
Verbesserte Techniken
Hinzu kommt Kandziora zufolge eine veränderte Anspruchshaltung der älteren, aber noch relativ gesunden Patienten: „Wer heute mit 65 Jahren in Rente geht, will besser und aktiver leben als das bei früheren Generationen der Fall war.“ Das bedeute, dass der Parameter Lebensqualität auch herangezogen werde, um sich bei Bedarf entsprechenden Operationen zu unterziehen.
In besonderem Maße tragen offenbar auch Verbesserungen in der diagnostischen und chirurgischen Technik sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum Anstieg der OP-Zahlen bei. „Die Wirbelsäulenchirurgie ist eine relativ junge Technologie, bei der die letzten zehn bis 15 Jahre einen erheblichen Innovationsschub gebracht haben“, erklärte Kandziora. So habe es noch vor 10 Jahren keine endoskopischen Chirurgie-Ansätze an der Wirbelsäule gegeben. Und auch diagnostische Methoden wie SPECT (Single Photon Emission Computed Tomography) oder Upright-Magnetresonanztomografie sind relativ neu. „Hinter steigenden Operationszahlen steht also durchaus auch eine Qualitätssteigerung.“
Mehr Evidenz zur operativen Therapie
Darüber hinaus nannte der Wirbelsäulenchirurg neue Krankheitsbilder – wie etwa die osteoporotisch bedingte Sakruminsuffizienzfraktur, die noch vor 10 Jahren nahezu unbekannt gewesen sei: „Heute behandele ich zwei Patienten pro Woche mit diesem Krankheitsbild.“
In jüngster Zeit erheblich zugenommen hat nach Ansicht Kandzioras ebenfalls die Evidenz zur operativen Therapie: „Noch vor fünf Jahren sind wir davon ausgegangen, dass die Operation eines 80-jährigen Patienten mit einer Verletzung der oberen Halswirbelsäule eine schlechte Prognose hat – jetzt ist das Gegenteil der Fall: Es wird eine schlechte Prognose mit kürzerer Lebenszeit erwartet, wenn wir ihn nicht operieren.“
Bei Verschleißerkrankungen erst konservative Möglichkeiten ausschöpfen
Weitestgehend unstrittig ist die operative Therapie bei Traumata, Tumoren, Infektionen und Deformitäten der Wirbelsäule. „Aber auch bei degenerativen Spondylolisthesen, Spinalkanal-Stenosen und Bandscheiben-Vorfällen“, so Kandziora, „ist die OP überlegen, sofern die konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft und erfolglos geblieben sind.“
So habe etwa die in den USA durchgeführte prospektiv randomisierte Langzeitstudie Spine Patient Outcomes Research Trial (SPORT) gezeigt, dass sich über einen Beobachtungszeitraum von mittlerweile 8 Jahren konstant eine geringere Schmerzbelastung und eine bessere Lebensqualität für Patienten ergibt, die sich operieren lassen.
Im Zweifelsfall Zweitmeinung einholen
Falls bei elektiven Eingriffen Unsicherheit besteht, ob die Wirbelsäulen-Operation wirklich angebracht oder welches Therapieverfahren optimal ist, hält Kandziora durchaus die Einholung einer Zweitmeinung für berechtigt. „Fachspezifische Zweitmeinungen für wirbelsäulenchirurgische Fragestellungen sollten bzw. können jedoch nur durch fachkundige konservativ oder operativ tätige Orthopäden, Unfallchirurgen oder Neurochirurgen erbracht werden.“ Bei der Auswahl des geeigneten Experten kann z.B. das Zweitmeinungsportal der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft nützlich sein.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Zu viele Wirbelsäulen-OPs in Deutschland? Die Orthopäden wehren sich: Steigerung nicht wegen finanzieller Interessen - Medscape - 22. Nov 2016.
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