Neue umstrittene US-Leitlinie zur Primärprävention mit Statinen: Willkommen in der Grauzone!

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

22. November 2016

In die derzeit laufende  Diskussion um Nutzen und Risiken der Statine hat sich nun auch die USPSTF (United  States Preventive Services Task Force) eingeschaltet: Im Fachjournal JAMA beantwortet  das Expertengremium um Prof. Dr. Kirsten  Bibbins-Domingo die Frage, unter welchen Umständen die Einnahme von Cholesterinsenkern  zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen aus seiner Sicht sinnvoll  ist.[1]

Der Stellungnahme zugrunde  liegt ein in der gleichen Ausgabe des JAMA veröffentlichter Evidenzreport der USPSTF,  den ein Team um Dr. Roger Chou von  der Oregon Health & Science University in Portland erstellt hat.[2] In diesen  Bericht sind 19 randomisierte, placebokontrollierte Studien mit insgesamt  71.344 Probanden eingeflossen. Die USPSTF spricht im Auftrag des  US-Gesundheitsministeriums regelmäßig Empfehlungen zu Präventionsmaßnahmen aus.

Kein belegter Nutzen für Menschen über 75 Jahren

Der US-Leitlinie zufolge  sollten Erwachsene im Alter zwischen 40 und 75 Jahren ohne kardiovaskuläre  Vorerkrankungen niedrige bis mittlere Statindosen einnehmen, sofern sie  mindestens einen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Leiden (Dyslipidämie,  Diabetes, Bluthochdruck oder Rauchen) aufweisen und ihr rechnerisches  10-Jahres-Erkrankungsrisiko über 7,5% (Empfehlungsgrad C) beziehungsweise über  10% (Empfehlungsgrad B) liegt.

Bei Menschen dagegen, die  älter als 75 Jahre sind, sei der Nutzen einer erst dann beginnenden Primärprävention  mit Statinen auch im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen nicht hinreichend  belegt, schreiben Bibbins-Domingo und ihre Kollegen.

           

Prof. Dr. Ulrich Laufs

           

Damit unterscheiden sich die  US-Empfehlungen in einigen Punkten von den hierzulande geltenden Leitlinien. So  wird in den USA sogar solchen Menschen zu einer Einnahme von Lipidsenkern  geraten, die gar keine erhöhten Cholesterinwerte haben. Zudem wird, anders als es  zum Beispiel die Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) vorsehen,  auf einen Zielwert des LDL-Cholesterins (LDL-C) gänzlich verzichtet.

LDL-Zielwerte für eine individuelle Risikosenkung

„Im Unterschied zu den  US-Empfehlungen, die zu fixen Statin-Dosierungen raten, berücksichtigen die in  Europa von der ESC und der DGK empfohlenen LDL-Zielwerte, dass sich die  absolute Risikoreduktion nicht nur nach dem globalen Risiko des Patienten richtet,  sondern auch nach der Höhe des Ausgangs-LDL-C und dem Ausmaß der LDL-Senkung“, erläutert  der Kardiologe Prof. Dr. Ulrich Laufs,  leitender Oberarzt am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg, gegenüber Medscape. Er favorisiert das europäische Vorgehen: „LDL-Zielwerte betonen die  Bedeutung einer multimodalen, individuellen Risikoreduktion und erleichtern die Kommunikation  des Behandlungszieles.“

Dass die jüngsten Empfehlungen  der USPSTF auch in den USA nicht unumstritten sind, zeigen mehrere Kommentare,  die zeitgleich im JAMA erschienen sind. Allein die Tatsache, dass es  weltweit mindestens 5 große Leitlinien gebe, die sich zum Teil deutlich  voneinander unterscheiden, zeige, dass es in der Diskussion um die  Primarprävention kardiovaskulärer Erkrankungen mit Cholesterinsenkern noch  immer an Evidenz fehle, stellt Dr. Philip  Greenland von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in  Chicago fest.[3]

Koronarkalk-Messung zur besseren Selektion der Patienten?

Zwar seien sich alle Leitlinien  darin einig, dass Statine besonders für Patienten mit einem hohen Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden  effektiv und für Menschen bis zu einem Alter von 75 Jahren auch generell sicher  seien, betont Greenland. Uneinigkeit herrsche aber vor allem in der Frage nach  den angestrebten Werten für das LDL-Cholesterin. Möglicherweise werde auch  solchen Menschen zu einer Einnahme von Cholesterinsenkern geraten, die diese  überhaupt nicht brauchen.

Um herauszufinden, wer von  einer Statintherapie tatsächlich profitiert und wer nicht, setzt der Kardiologe  daher für die Zukunft auf die Messung des Koronarkalks per Computertomografie. Derzeit  sei es besonders bei älteren Patienten und solchen mit einem geringen Risiko  für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wichtig, sowohl das klinische Urteil des Arztes  als auch die Wünsche des Patienten in der Entscheidung für oder gegen die  Einnahme eines Statins stärker zu berücksichtigen, schreibt Greenland.

Unterschiedliche Effekte bei der Primär- und Sekundärprävention

Schärfere Kritik an der  Stellungnahme der USPSTF kommt von Dr.  Rita Redberg von der University of California in San Francisco, die unter  anderem geringe Effekte der Lipidsenkung in der Primärprävention bemängelt.[4]  Menschen ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung, die allein auf Basis einer Risikoeinschätzung  Statine einnehmen, senkten ihr Sterberisiko an einem Herz-Kreislauf-Leiden laut  dem USPSTF-Report gerade einmal um absolut 0,43%, konstatiert Redberg.

 
LDL-Zielwerte … erleichtern die Kommunikation des Behandlungszieles.   Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Zudem habe man in dem Report  nicht jene Studien ausgeschlossen, die auch Teilnehmer hatten, die Statine zur  Sekundärprävention einnahmen, kritisiert sie. Die Medizinerin verweist auf eine  andere Metaanalyse aus dem Jahr 2010, in der genau das geschehen sei: Diese habe in Bezug auf die  Gesamtsterblichkeit überhaupt keinen Nutzen der Statine in der Primärprävention  belegen können, so die Kardiologin.

Der geringe Nutzen, den die USPSTF  sehe, müsse zudem in Frage gestellt werden, da 18 der 19 für die Empfehlung  analysierten Studien von der Industrie gesponsert gewesen seien, schreibt Redberg.  Industriegesponserte Studien aber würden bekanntermaßen dazu tendieren, einen  größeren Nutzen und weniger Nebenwirkungen zu sehen als nicht kommerziell finanzierte  Untersuchungen zu dem gleichen Medikament.

US-Leitlinien widersprechen in manchen Fällen der ärztlichen Intuition

Die Grenzen der USPSTF-Empfehlung  zeigt auch die Assistenzprofessorin Dr. Ann  Marie Navar vom Duke Clinical Research Institute in Durham, North Carolina,  auf – allerdings aus einem anderen Blickwinkel.[5] Navar berichtet von einem  41-jährigen Mann mit Bluthochdruck, der medikamentös auf 128/70 mmHg eingestellt  war. Der Patient hatte keinen Diabetes und rauchte nicht, doch seine  Cholesterinwerte waren erhöht (Gesamt-C: 245 mg/dl, LDL-C: 155 mg/dl, HDL-C: 50 mg/dl).

Aufgrund dieser Werte würden die  meisten Ärzte dem Mann vermutlich eine Statineinnahme nahelegen, um sein  kardiovaskuläres Risiko zu senken. Die US-Leitlinien raten in diesem Fall  jedoch davon ab, da das rechnerische 10-Jahres-Erkrankungsrisiko nur bei 2% liegt  – wenngleich es langfristig (als Lebenszeitrisiko) auf 50% steigen könnte.

Ein anderer von Navar  vorgestellter Patient ist ein 63-jähriger Mann mit einem ähnlichen  Risikoprofil, aber guten Cholesterinwerten (Gesamt-C: 160 mg/dl, LDL-C: 80 mg/dl, HDL-C: 50 mg/dl). Diesem Mann würden die meisten Ärzte vermutlich keinen  Lipidsenker verordnen. Den US-Leitlinien zufolge allerdings müsste er ein Statin  nehmen, da sein rechnerisches 10-Jahres-Erkrankungsrisiko aufgrund des höheren  Alters bei 10% liegt. Das geschätzte Lebenszeitrisiko beträgt bei diesem Patienten  wie im ersten Fall 50%.

Die Kunst des medizinischen Handelns ist gefragt

Innerhalb dieser Grauzone, die  nicht durch die Leitlinien abgedeckt sei, sollten Ärzte nicht dazu übergehen,  nach streng festgelegten Prinzipien zu handeln, schreibt Navar. Gerade dort, wo  die wissenschaftliche Evidenz Lücken aufweise, sei die Kunst des medizinischen  Handelns gefragt. Gemeinsam mit ihren Patienten müssten die Ärzte selbst  Strategien entwickeln, um kardiovaskulären Erkrankungen bestmöglich vorzubeugen.

 

Kommentar

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