In die derzeit laufende Diskussion um Nutzen und Risiken der Statine hat sich nun auch die USPSTF (United States Preventive Services Task Force) eingeschaltet: Im Fachjournal JAMA beantwortet das Expertengremium um Prof. Dr. Kirsten Bibbins-Domingo die Frage, unter welchen Umständen die Einnahme von Cholesterinsenkern zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen aus seiner Sicht sinnvoll ist.[1]
Der Stellungnahme zugrunde liegt ein in der gleichen Ausgabe des JAMA veröffentlichter Evidenzreport der USPSTF, den ein Team um Dr. Roger Chou von der Oregon Health & Science University in Portland erstellt hat.[2] In diesen Bericht sind 19 randomisierte, placebokontrollierte Studien mit insgesamt 71.344 Probanden eingeflossen. Die USPSTF spricht im Auftrag des US-Gesundheitsministeriums regelmäßig Empfehlungen zu Präventionsmaßnahmen aus.
Kein belegter Nutzen für Menschen über 75 Jahren
Der US-Leitlinie zufolge sollten Erwachsene im Alter zwischen 40 und 75 Jahren ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen niedrige bis mittlere Statindosen einnehmen, sofern sie mindestens einen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Leiden (Dyslipidämie, Diabetes, Bluthochdruck oder Rauchen) aufweisen und ihr rechnerisches 10-Jahres-Erkrankungsrisiko über 7,5% (Empfehlungsgrad C) beziehungsweise über 10% (Empfehlungsgrad B) liegt.
Bei Menschen dagegen, die älter als 75 Jahre sind, sei der Nutzen einer erst dann beginnenden Primärprävention mit Statinen auch im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen nicht hinreichend belegt, schreiben Bibbins-Domingo und ihre Kollegen.

Prof. Dr. Ulrich Laufs
Damit unterscheiden sich die US-Empfehlungen in einigen Punkten von den hierzulande geltenden Leitlinien. So wird in den USA sogar solchen Menschen zu einer Einnahme von Lipidsenkern geraten, die gar keine erhöhten Cholesterinwerte haben. Zudem wird, anders als es zum Beispiel die Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) vorsehen, auf einen Zielwert des LDL-Cholesterins (LDL-C) gänzlich verzichtet.
LDL-Zielwerte für eine individuelle Risikosenkung
„Im Unterschied zu den US-Empfehlungen, die zu fixen Statin-Dosierungen raten, berücksichtigen die in Europa von der ESC und der DGK empfohlenen LDL-Zielwerte, dass sich die absolute Risikoreduktion nicht nur nach dem globalen Risiko des Patienten richtet, sondern auch nach der Höhe des Ausgangs-LDL-C und dem Ausmaß der LDL-Senkung“, erläutert der Kardiologe Prof. Dr. Ulrich Laufs, leitender Oberarzt am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg, gegenüber Medscape. Er favorisiert das europäische Vorgehen: „LDL-Zielwerte betonen die Bedeutung einer multimodalen, individuellen Risikoreduktion und erleichtern die Kommunikation des Behandlungszieles.“
Dass die jüngsten Empfehlungen der USPSTF auch in den USA nicht unumstritten sind, zeigen mehrere Kommentare, die zeitgleich im JAMA erschienen sind. Allein die Tatsache, dass es weltweit mindestens 5 große Leitlinien gebe, die sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden, zeige, dass es in der Diskussion um die Primarprävention kardiovaskulärer Erkrankungen mit Cholesterinsenkern noch immer an Evidenz fehle, stellt Dr. Philip Greenland von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago fest.[3]
Koronarkalk-Messung zur besseren Selektion der Patienten?
Zwar seien sich alle Leitlinien darin einig, dass Statine besonders für Patienten mit einem hohen Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden effektiv und für Menschen bis zu einem Alter von 75 Jahren auch generell sicher seien, betont Greenland. Uneinigkeit herrsche aber vor allem in der Frage nach den angestrebten Werten für das LDL-Cholesterin. Möglicherweise werde auch solchen Menschen zu einer Einnahme von Cholesterinsenkern geraten, die diese überhaupt nicht brauchen.
Um herauszufinden, wer von einer Statintherapie tatsächlich profitiert und wer nicht, setzt der Kardiologe daher für die Zukunft auf die Messung des Koronarkalks per Computertomografie. Derzeit sei es besonders bei älteren Patienten und solchen mit einem geringen Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wichtig, sowohl das klinische Urteil des Arztes als auch die Wünsche des Patienten in der Entscheidung für oder gegen die Einnahme eines Statins stärker zu berücksichtigen, schreibt Greenland.
Unterschiedliche Effekte bei der Primär- und Sekundärprävention
Schärfere Kritik an der Stellungnahme der USPSTF kommt von Dr. Rita Redberg von der University of California in San Francisco, die unter anderem geringe Effekte der Lipidsenkung in der Primärprävention bemängelt.[4] Menschen ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung, die allein auf Basis einer Risikoeinschätzung Statine einnehmen, senkten ihr Sterberisiko an einem Herz-Kreislauf-Leiden laut dem USPSTF-Report gerade einmal um absolut 0,43%, konstatiert Redberg.
Zudem habe man in dem Report nicht jene Studien ausgeschlossen, die auch Teilnehmer hatten, die Statine zur Sekundärprävention einnahmen, kritisiert sie. Die Medizinerin verweist auf eine andere Metaanalyse aus dem Jahr 2010, in der genau das geschehen sei: Diese habe in Bezug auf die Gesamtsterblichkeit überhaupt keinen Nutzen der Statine in der Primärprävention belegen können, so die Kardiologin.
Der geringe Nutzen, den die USPSTF sehe, müsse zudem in Frage gestellt werden, da 18 der 19 für die Empfehlung analysierten Studien von der Industrie gesponsert gewesen seien, schreibt Redberg. Industriegesponserte Studien aber würden bekanntermaßen dazu tendieren, einen größeren Nutzen und weniger Nebenwirkungen zu sehen als nicht kommerziell finanzierte Untersuchungen zu dem gleichen Medikament.
US-Leitlinien widersprechen in manchen Fällen der ärztlichen Intuition
Die Grenzen der USPSTF-Empfehlung zeigt auch die Assistenzprofessorin Dr. Ann Marie Navar vom Duke Clinical Research Institute in Durham, North Carolina, auf – allerdings aus einem anderen Blickwinkel.[5] Navar berichtet von einem 41-jährigen Mann mit Bluthochdruck, der medikamentös auf 128/70 mmHg eingestellt war. Der Patient hatte keinen Diabetes und rauchte nicht, doch seine Cholesterinwerte waren erhöht (Gesamt-C: 245 mg/dl, LDL-C: 155 mg/dl, HDL-C: 50 mg/dl).
Aufgrund dieser Werte würden die meisten Ärzte dem Mann vermutlich eine Statineinnahme nahelegen, um sein kardiovaskuläres Risiko zu senken. Die US-Leitlinien raten in diesem Fall jedoch davon ab, da das rechnerische 10-Jahres-Erkrankungsrisiko nur bei 2% liegt – wenngleich es langfristig (als Lebenszeitrisiko) auf 50% steigen könnte.
Ein anderer von Navar vorgestellter Patient ist ein 63-jähriger Mann mit einem ähnlichen Risikoprofil, aber guten Cholesterinwerten (Gesamt-C: 160 mg/dl, LDL-C: 80 mg/dl, HDL-C: 50 mg/dl). Diesem Mann würden die meisten Ärzte vermutlich keinen Lipidsenker verordnen. Den US-Leitlinien zufolge allerdings müsste er ein Statin nehmen, da sein rechnerisches 10-Jahres-Erkrankungsrisiko aufgrund des höheren Alters bei 10% liegt. Das geschätzte Lebenszeitrisiko beträgt bei diesem Patienten wie im ersten Fall 50%.
Die Kunst des medizinischen Handelns ist gefragt
Innerhalb dieser Grauzone, die nicht durch die Leitlinien abgedeckt sei, sollten Ärzte nicht dazu übergehen, nach streng festgelegten Prinzipien zu handeln, schreibt Navar. Gerade dort, wo die wissenschaftliche Evidenz Lücken aufweise, sei die Kunst des medizinischen Handelns gefragt. Gemeinsam mit ihren Patienten müssten die Ärzte selbst Strategien entwickeln, um kardiovaskulären Erkrankungen bestmöglich vorzubeugen.
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Neue umstrittene US-Leitlinie zur Primärprävention mit Statinen: Willkommen in der Grauzone! - Medscape - 22. Nov 2016.
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