Chronisches Müdigkeitssyndrom: Die Belege für biologische Grundlagen mehren sich – taugen Zytokine als Biomarker?

Miriam E. Tucker

Interessenkonflikte

18. November 2016

Fort Lauderdale, Florida — Neue Untersuchungen stützen die Hypothese, dass das chronische Erschöpfungssyndrom eine biologische Grundlage hat. Dies berichtete eine Studiengruppe auf der klinisch-wissenschaftlichen Konferenz der International Association for Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis (IACFS/ME) [1]. Einige der ausgemachten Anomalien und Veränderungen könnten den Weg für klinisch-diagnostische Tests und zielgerichtete Therapien ebnen.

Die heute unter dem Begriff chronisches Erschöpfungssyndrom oder chronisches Fatigue-Syndrom firmierende Erkrankung hat in der Medizin durch unterschiedliche und unscharfe Namensgebungen lange Zeit für viel Verwirrung gesorgt. Denn obwohl die Patienten stark beeinträchtigt sind und zahlreiche anomale körperliche Befunde aufweisen, gab es bislang keine spezifischen Biomarker, die eine überzeugende Diagnosesicherung erlaubt hätten.

Stattdessen richten sich die aktuellen diagnostischen Kriterien, wie die vom Institute of Medicine (IOM) im Februar 2015 veröffentlichten, auf die vom Patienten beklagten Symptome, wie Zustandsverschlechterung nach Belastung, nicht erholsamer Schlaf, orthostatische Hypotonie, kognitive Dysfunktion sowie verschiedene Ausprägungen u.a. von Muskelschmerzen oder Muskelbrennen, grippeartigen Symptomen und gastrointestinalen Störungen. Häufig wird dies auf eine prolongiert verlaufende Viruserkrankung geschoben, doch glauben die meisten Experten eher an multiple potenzielle Auslöser.

Das heterogene Beschwerdebild hat in Kombination mit fehlenden spezifischen Biomarkern unter Klinikern dazu geführt, dass bei dem Syndrom eher eine psychische statt einer somatischen Genese vermutet wurde. Allerdings haben Studien aus den letzten 10 Jahren in Richtung der somatischen Ursachen gewiesen. Auf der zweijährlich stattfindenden IACFS/ME-Konferenz wurden über 100 Arbeiten vorgestellt, die zur Evidenzbasis der Erkrankung beitragen, berichtet Prof. Dr. Anthony L. Komaroff von der Harvard University in Boston und Chefredakteur des Harvard Health Letter.

„In Fall-Kontroll-Studien, in denen Fatigue-Patienten sowohl mit Vergleichsgruppen Kranker als auch gesunden Kontrollgruppen verglichen wurden, fand sich stabile Evidenz für einen zugrunde liegenden somatischen Prozess. Dabei spielen das Gehirn, das vegetative Nervensystem, das Immunsystem, der Energiestoffwechsel sowie oxidativer und nitrosativer Stress [eine übermäßige Belastung mit NO-Radikalen] eine Rolle“, erklärte Komaroff. „Wer immer noch zweifelt, ob bei dieser Krankheit tatsächlich etwas im Organismus schief läuft, sollte sich einmal die Evidenz anschauen.“

Mögliche Biomarker für Diagnose und Therapie

Prof. Dr. Jose Montoya von der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien, präsentierte Befunde aus der bisher größten derartigen Untersuchung, die 192 Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom nach IOM-Kriterien und 392 gesunde Kontrollpatienten (mit eher sitzender Lebensweise) umfasste. Er stellte bei den Patienten gegenüber Personen aus der Kontrollgruppe eine signifikante Erhöhung von 17 spezifischen Zytokinen fest, die mit der Schwere der Symptome korrelierte. 13 dieser Zytokine waren proinflammatorisch.

 
Wer immer noch zweifelt, ob bei dieser Krankheit tatsächlich etwas im Organismus schief läuft, sollte sich einmal die Evidenz anschauen. Prof. Dr. Anthony L. Komaroff
 

Diese Ergebnisse „begründen viele der von den Patienten erlittenen Beschwerden und untermauern die immunologische Natur der Erkrankung“, fuhr er fort. Daraus ergäbe sich auch, dass immunmodulierende Substanzen bei Symptomen, die mit Entzündungsprozessen zusammenhängen, therapeutisch wirksam sein könnten.

„Bereits vor 20 bis 30 Jahren stellten einige Ärzte die Hypothese auf, dass die Symptome dieser Erkrankung auf ein erhöhtes Zytokin-Niveau im Gehirn infolge einer chronischen Immunaktivierung zurückzuführen sind“, kommentierte Komaroff, „Diese Studie zeigt dies in ausgezeichneter Weise. Wenn solche Zytokine die Symptomatik zu erklären vermögen, würde man eine Korrelation zwischen der Höhe der Zytokinspiegel und der Schwere der Symptomatik erwarten. Und genau das ist es, was die Untersucher gefunden haben.“

Inflammatorische Marker im Blut

In einer weiteren Studie hatte Dr. Kenny L. De Meirleir, ärztlicher Leiter des Nevada Center for Biomedical Research in Reno, Nevada, 70 Männer und 70 Frauen mit chronischem Erschöpfungssyndrom mit der gleichen Anzahl gesunder Personen (mit sitzender Lebensweise) als Kontrollgruppe verglichen. Sein Team fand dabei signifikante Unterschiede bei 4 spezifischen immunologischen/inflammatorischen Markern im venösen Blut (Prostaglandin E2, Interleukin 8, lösliches CD14 als Surrogatmarker für bakterielle Lipopolysaccharide und CD-57-positive Lymphozyten; p jeweils < 0,001).

Als Testreihe ließen sich mit diesen 4 Markern 89,5% der männlichen und 97,1% der weiblichen Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom nach IOM-Kriterien identifizieren. De Meirleir erklärte gegenüber Medscape, dass er inzwischen viele weitere Daten gesammelt habe, welche die Ergebnisse bestätigten. Auch werde die Testreihe in seinem Heimatland Belgien zur klinischen Diagnostik des chronischen Fatigue-Syndroms eingesetzt.

Komaroff nannte die Resultate „ermutigend, weil eine korrekte diagnostische Testung gebraucht“ werde. Allerdings riet er dazu, behutsam vorzugehen, da die Ergebnisse zunächst in weiteren Labors bestätigt werden müssten. Zudem müssten weitere Untersuchungen belegen, dass die Tests tatsächlich ein chronisches Erschöpfungssyndrom von anderen Erkrankungen mit Müdigkeitssymptomen wie Multiple Sklerose oder Lupus differenzieren, bevor die Testreihe auch eine breitere kommerzielle Anwendung finden könnte. Und: „Der Test muss preiswert sein.“

Die Diskussionsleiterin Dr. Mady Hornig, Dozentin für Epidemiologie an der Columbia University in New York, sagte gegenüber Medscape: „Meiner Meinung nach sollten wir uns zuerst darum bemühen, mithilfe der Biomarker die Heterogenität der Erkrankung in den Griff zu bekommen, bevor wir wissen können, ob ihr Einsatz als Diagnoseinstrument möglich ist … Ich habe das Gefühl, dass die Suche nach einem universellen Biomarker und das Bestreben, einen solchen möglichst früh und in der Breite anzuwenden, dazu führen könnte, dass wir zwar hilfreiche Biomarker in Umlauf bringen, diese jedoch nur bestimmte Formen des chronischen Fatigue-Syndroms anzeigen.“

Und weiter sagte Hornig, die selbst an einer Studie zur Identifizierung inflammatorischer Zytokine im Rahmen eines chronischen Erschöpfungssyndroms gearbeitet hat: „Wir brauchen eindeutig weitere Studien, die sich mit der klinischen Signifikanz von Biomarkern befassen und die uns helfen, die Ursachen der Erkrankung besser zu verstehen.“

Anomalien in vielen Systemen

 
Diese Ergebnisse begründen viele der von den Patienten erlittenen Beschwerden und untermauern die immunologische Natur der Erkrankung. Prof. Dr. Jose Montoya
 

Unter den verschiedenen Studien, die hirnorganische Veränderungen im Rahmen eines chronischen Fatigue-Syndroms aufzeigten, war auch eine Untersuchung an 23 betroffenen und 20 gesunden Jugendlichen. Darin wiesen die Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikante Defizite auf – dies bei der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, bei längerer Konzentration sowie bei Aufgaben, die das Arbeitsgedächtnis beanspruchen. „Wir sehen bei den Jugendlichen also viele der kognitiven Probleme, die wir auch bei Erwachsenen feststellen konnten. Das ist nicht überraschend, doch wichtig festzuhalten, besonders im Hinblick auf zweifelnde Schulleitungen“, fügte Komaroff hinzu.

3 Studien untersuchten mit jeweils unterschiedlichen zerebralen Bildgebungsverfahren (PET, diffusionsgewichtete MRT, EEG) Patienten mit dem Golfkriegssyndrom, das als Spielart des chronischen Erschöpfungssyndroms gilt. Dabei stellte man in verschiedenen Hirnregionen eine gestörte funktionale Konnektivität fest. Komaroff bemerkte, dass „drei verschiedene Methoden alle zu demselben Ergebnis kommen, nämlich dass das Gehirn nicht mehr die gut geölte Maschine ist, die es einmal war oder vielleicht an guten oder besseren Tagen noch ist“.

Es fanden sich auch genetische Unterschiede. Eine Studie wies bei 53 Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom 3 Einzelnukleotid-Polymorphismen nach, die in Genen für eine Untereinheit der NADH-Dehydrogenase aus der mitochondrialen Atmungskette lokalisiert sind. „Ein wichtiger Befund“, weil auf dem Kongress weitere Studien vorgestellt worden seien, die Evidenz für einen veränderten Energiestoffwechsel lieferten, meinte Komaroff.

In anderen Untersuchungen fanden sich epigenetische Phänomene, etwa dysfunktionale Gene mit Hypo- oder Hypermethylierung, was mit den klinischen Symptomen korrelierte, sowie signifikant veränderte Expressionsmuster von Genen, die an der Immunregulation beteiligt sind.

Zudem waren in einer Stoffwechselstudie an 17 Patienten mit chronischem Fatigue-Syndrom und 15 gesunden Probanden die Unterschiede bei Metaboliten von Stoffwechselwegen am größten, in denen es um die Energiegewinnung aus Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren geht.

 
Wir brauchen eindeutig weitere Studien, die sich mit der klinischen Signifikanz von Biomarkern befassen und die uns helfen, die Ursachen der Erkrankung besser zu verstehen. Dr. Mady Hornig
 

Die Befunde, die für einen hypometabolischen Zustand sprechen, passen zu einer weiteren, aktuell in Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichten Untersuchung. Zwar unterschieden sich die spezifischen Metabolite, um dies es ging, in den beiden Studien, doch widersprächen sich die Ergebnisse nicht, meint Komaroff: „Es bedeutet lediglich, dass manche Stoffwechselwege bei dieser Erkrankung heruntergeregelt werden, während andere, etwa die am Immunsystem und an Entzündungsreaktionen beteiligt sind, überschießend reagieren.“

Blick nach vorn

Abschließend sagte Komaroff, dass ihn neue Initiativen der National Institutes of Health (NIH) ermutigten. Dazu gehöre auch eine neu aufgesetzte NIH-eigene Untersuchung, bei der Bioproben von 40 Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom und nachweislich postinfektiösem Allgemeinzustand und 40 gematchten gesunden Erwachsenen analysiert werden.

Darüber hinaus erfuhren die Kongressbesucher von einem Vertreter der NIH, dass eine NIH-übergreifende Arbeitsgruppe mit den CDC (Centers for Disease Control and Prevention) und anderen Forschungsstellen in den USA und in Europa gemeinsam an einer Standardisierung und Poolbildung von klinischen Proben mit entsprechendem Datenaustausch arbeitet. „Das ist genau die Infrastruktur, derer es bedarf, um auf diesem Gebiet weiter zu forschen“, betonte Komaroff.

Hornig äußerte sich gegenüber Medscape so: „Neben einer Intensivierung der Forschungen zu den Ursachen und der Behandlung dieser Erkrankung müssen wir unbedingt Wege finden, um Ärzte und Mitarbeiter über sie zu aufzuklären, wozu auch die geeigneten Methoden für das klinische und laborchemische Management und die Differenzialdiagnostik gehören, damit die betroffenen Menschen besser versorgt werden können.“


Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

REFERENZEN:

1. IACFS/ME Konferenz, 27. bis 30. Oktober 2016, Fort Lauderdale/Florida, USA

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....