Kopenhagen – Die am besten wirksame Krebstherapie zu finden, ist oft schwer genug – was aber, wenn die Patienten zusätzlich noch schwanger ist? Prof. Jane Apperley, Direktorin der Abteilung für Hämatologie am Imperial College in London, sah sich im Laufe Ihrer Karriere bereits vielfach dieser schwierigen Entscheidung ausgesetzt. Auf dem Europäischen Onkologenkongress (ESMO) teilte Sie ihre Erfahrung.

Prof. Jane Apperley
Medscape: Sind Fruchtbarkeit und Schwangerschaft häufige Themen in der Onkologie und Ihrer täglichen Praxis?
Prof. Apperley: Zumindest in der Hämatologie interessieren wir uns für dieses Thema schon seit vielen Jahren. Es mag damit begonnen haben, dass wir im Vergleich zu jeder anderen Disziplin, in der nicht operiert wird, die wahrscheinlich intensivste Chemotherapie und Bestrahlung verabreichen. Wir glaubten, dass die Chemotherapie bei der Knochenmarktransplantation in 100% der Fälle zur Infertilität führe. Ich weiß aus meiner eigenen Praxis, dass wir diese Annahme bereits vor 30 Jahren mit Patienten diskutiert haben – und dass wir damit begonnen haben, darüber nachzudenken, wie wir es möglicherweise verhindern könnten.
Offensichtlich können wir Sperma kryokonservieren, aber zum damaligen Zeitpunkt konnten wir nicht viel für unsere Patientinnen tun. Da sich die IVF-Techniken nun tatsächlich verbessert haben, ist uns nun bewusst, dass wir mehr anbieten können. Natürlich hängt das Interesse des Arztes zu großen Teilen von der Krankheit selbst ab. Onkologen und Hämatologen, die jüngere Patienten behandeln – zum Beispiel mit Hodgkin-Lymphom – sind sich der Problematik sehr bewusst, genauso wie Kinderonkologen.
Medscape: Sie erwähnten, dass sich die IVF-Techniken dramatisch verbessert haben. Wie steht es um die Behandlung und die Prognose von hämatologischen Malignitäten?
Prof. Apperley: Zweifelsohne verbessert sich die Behandlung hämatologischer Erkrankungen im Laufe der Zeit. Im Falle meines Schwerpunktes – der chronischen myeloischen Leukämie (CML) – haben etwa 80% der Patienten nach Behandlung eine normale Lebenserwartung. Patienten, die zwar keine normale Lebenserwartung mehr haben, können zumindest ein normales Leben führen – und das ist es, was sie auch erwarten sollten! Familie ist selbstverständlich ein wichtiger Teil davon.
Für viele Krebsarten gibt es außerdem viele neue Wirkstoffe, die wissenschaftlich sehr faszinierend sind. Sie zeigen uns interessante Ergebnisse, die wir früher nie für möglich gehalten hätten. Aber wir haben kaum Daten zu ihren Einfluss auf die Fertilität oder die embryonale Entwicklung. Wir müssen deshalb noch sehr viel über diese neuen Wirkstoffe lernen.
Medscape: Gibt es Chemotherapeutika, die sicherer als andere sind, wenn es um die Risikoreduktion während der Schwangerschaft geht?
Prof. Apperley: Wir haben eine langjährige Erfahrung mit den Standard-Therapeutika – Anthrazyklinen und Antimetaboliten. Aber die meisten Daten beschränken sich auf die Einzelanwendung. Es gibt nur sehr wenige Daten zur Kombination mit anderen Wirkstoffen.
Ich habe Glück, CML-Patienten zu behandeln, da es begründete Nachweise dafür gibt, dass Inteferon auch bei schwangeren Frauen sicher ist. Wir nutzen diesen Wirkstoff derzeit zwar nicht sehr häufig. Aber er stellt zumindest eine Möglichkeit für jene Frauen dar, bei denen der Tyrosinkinasehemmer (tyrosine kinase inhibitor; TKI) abgesetzt worden ist, damit sie schwanger werden können. Einen Rückfall können wir dann sicher mit Inteferon behandeln.
Medscape: Zu welchem Zeitpunkt in der Schwangerschaft haben TKIs üblicherweise den größten Einfluss auf die Entwicklung des Ungeborenen?
Prof. Apperley: Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht viel darüber. Für Imatinib scheint recht klar zu sein, dass es sich um das 1. Trimester handelt. Für Dasatinib gibt es allerdings einen aktuellen Bericht, wonach 2 Kinder sehr schwere kongenitale Abnormalitäten zeigten, nachdem Dasatinib im 2. Trimester verabreicht worden war. Ich glaube deshalb, dass wir uns derzeit nicht sicher sein können.
Wir müssen mehr zu diesem Thema lernen, und ich glaube, dass Register entscheidend dabei sind. Ich ermutige meine Patienten zur Teilnahme, und ich begrüße jegliche Stellungnahmen der pharmazeutischen Industrie, da ich glaube, dass diese auf einem enormen Berg von Daten sitzen.
Medscape: Wenn weiterhin so viele Unklarheiten bestehen, ist die Krebsbehandlung in der Schwangerschaft offensichtlich das Ergebnis eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses mit dem Patienten. Wie sollten Ärzte mit diesem schwierigen Thema umgehen?
Prof. Apperley: Es handelt sich definitiv nicht um ein leichtes Thema. Das Wichtigste ist, dem Patienten gegenüber offen und ehrlich zu sein. Es gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen, und es ist absolut in Ordnung, dies dem Patienten auch zu sagen. Außerdem ist ohnehin nichts garantiert, wenn man ein Kind bekommen möchte. Menschen mit und ohne Chemotherapie bekommen Kinder mit gesundheitlichen Problemen.
Es gibt allerdings bereits einiges in der wissenschaftlichen Literatur, und es gibt wachsende Evidenz, die uns bei unseren Entscheidungen unterstützt. Zum Beispiel scheint der erste TKI, Imatinib, bei Männern sicher zu sein, deren Partnerinnen schwanger werden wollen. Männer können die Behandlung mit Imatinib fortsetzen – und wahrscheinlich auch mit Dasatinib – während das Paar versucht schwanger zu werden. Für 3 weitere Wirkstoffe – Bosutinib, Nilotinib und Ponatinib – gibt es noch keine Daten, aber alle sind während des 1. Trimesters und wahrscheinlich auch im 2. Trimester bei schwangeren Frauen nicht sicher.
Wir leben in einer Zeit, in der die Datenmengen geradezu explodieren. Und wir, als Wissenschaftler, müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir die Akzeptanz der Daten fördern können, die wir vom Patienten direkt gewinnen. Das Problem eines jeden, der einen Fall berichtet, ist, dass sich medizinische Fachmagazine hier um mögliche Bias sorgen. Sie befürchten, dass ein sehr gutes Ergebnis in einem Fall – und ein sehr schlechtes Ergebnis in einem anderen – nicht die Realität widerspiegeln. Aber jetzt gibt es genug einzelne Fälle, und wir können das Problem schlichtweg durch die hohe Anzahl lösen.
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Diesen Artikel so zitieren: Chemotherapie in der Schwangerschaft? Von begründeten Entscheidungen bis zu bleibenden Unsicherheiten - Medscape - 21. Nov 2016.
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