Nun ist es amtlich: Künftig sollen Arzneimittelstudien an Demenzkranken auch dann erlaubt sein, wenn die Probanden weder einwilligungsfähig noch Nutznießer der Studien sind. Das hat jetzt der Bundestag in der vierten Novelle des Arzneimittelgesetzes beschlossen [1].
Doch weil die Entscheidung äußerst umstritten war, hat der Bundestag ohne Fraktionszwang abgestimmt: 385 der 542 Abgeordneten stimmten in der namentlichen Abstimmung der Neuregelung zu, 164 stimmten dagegen und 21 enthielten sich.
Auch unter Medizinethikern ist die Entscheidung umstritten. Aber selbst bei gegensätzlichen Positionen sind sich die Ethik-Experten einig: Die Neuregelung ist zwar nutzlos, könnte aber Folgen haben.
Gruppennützige Studien werden erlaubt
Die Voraussetzung für jene sogenannten gruppennützigen Studien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen ist nun laut Gesetz, dass die späteren Probanden vorab eingewilligt haben müssen und zuvor von einem Arzt beraten worden sind. Ihre Zustimmung muss in einer Probandenverfügung schriftlich hinterlegt sein. Die Studienteilnahme muss freiwillig bleiben und kann jederzeit vom Studienteilnehmer abgebrochen werden, so das Gesetz.
Unter anderem das Studiendesign und die Rechtmäßigkeit der Probandenerklärung werden von den zuständigen Ethikkommissionen der Länder in Abstimmung mit den Bundesbehörden überprüft, genehmigt und überwacht, hieß es. Allerdings hat der Gesetzgeber die Ethikkommissionen der Länder entmachtet. Sie werden künftig nicht mehr das letzte Wort haben, sondern können von der Bundesoberbehörde überstimmt werden.
Das Gesetz wurde aufgrund einer entsprechenden EU-Verordnung (Nr. 536/ 2014) geändert, die diese Forschung erlaubt – sogar ohne Beratung und Probandenverfügung. Die im Bundestag beschlossene Regelung ist also ein Zwischending zwischen der EU-Regelung und dem Verbot, das in Deutschland vorher galt.
Das Gesetzesvorhaben war wegen ethisch begründeter Vorbehalte umstritten. Zu entscheiden war, was schwerer wiegt: Erkenntnisgewinn und Nutzen aller durch die Forschung oder der Schutz des einzelnen Erkrankten.
Kein Bedarf?
Für Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Berliner Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), müssen demenziell Erkrankte besonders geschützt werden, weil sie besonders verletzlich sind. Andernfalls könnten sie leicht instrumentalisiert werden, wie Grüber sagt. „Ich hätte mir darum gewünscht, dass das Verbot der gruppennützigen Forschung erhalten bleibt“, so Grüber zu Medscape. Erst vor 3 Jahren habe der Bundestag die Regierung genau dazu aufgefordert.
Auch die Aufklärung entspreche nicht dem „informed consent“, der informierten Einwilligung. „Denn man weiß im Moment der Verabredung nicht, worauf man sich in Zukunft eigentlich einlässt“, sagt Grüber. Dabei habe der Bundesgerichtshof erst im Sommer klargestellt, dass Patientenverfügungen hinreichend bestimmt sein müssen.
Außerdem sei die neue Regelung unpraktisch. „Wie könnten Menschen überhaupt dazu gewonnen werden, eine Probandenverfügung zu unterschreiben?“, fragt die Ethikerin. Und selbst wenn diese Verfügungen vorlägen: Wie sollten die Wissenschaftler – datenrechtlich einwandfrei – von den Probanden erfahren? Und wenn sie von ihnen erfahren, würde es dann genug Probanden für ein bestimmtes angestrebtes Studiendesign überhaupt geben? Lauter ungeklärte Fragen.
Tatsächlich meint Grüber: „Es gibt keinen Bedarf an solcher Forschung.“ Trotzdem habe die neue Gesetzeslage Folgen: Sie wirke aufweichend. „Der Weg zu einer Forschung ohne Probandenerklärung und auch für andere Patienten, wie etwa behinderte Menschen, wäre kürzer.“
Dilemma ist nur zu regulieren, nicht zu vermeiden
Der Münchner Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München sieht dies anders als Grüber. Es handle sich um ein prinzipielles Dilemma, das nicht zu vermeiden, sondern nur zu regulieren sei, wie es der Gesetzgeber jetzt im Hinblick auf nicht zustimmungsfähige Patienten getan habe.
Denn für ihn ist jede Forschung am Menschen mit unauflösbaren ethischen Konflikten verbunden: „Jeder soll mit wirksamen und sicheren Medikamenten versorgt werden, aber das geht nur mit Tests an Patienten, die in der Studie dann aber mit Medikamenten behandelt werden, deren Wirksamkeit und Sicherheit noch nicht belegt ist.“
So unterstützt Marckmann die Neuregelung. „Zudem wäre es inkonsequent, ausschließlich gruppennützige Forschung bei Minderjährigen zu erlauben, aber nicht bei Patienten mit Demenz.“
Allerdings kritisiert auch der Münchner Ethiker am neuen Gesetz die Probandenverfügung. „Man kann nicht präzise einer Forschung zustimmen, von der man noch gar nicht weiß, was sie umfasst“, sagt Marckmann. Er hält genauso wie Grüber den Nutzen der neuen Regelung trotz seiner Zustimmung indessen nur für „allenfalls marginal, da es nur wenig Arzneimitteltestungen geben dürfte, von denen die Studienteilnehmer selbst gar nicht profitieren können."
Das Gesetz könnte höchstens eine Tür aufstoßen zu Forschungen an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen auch in Fällen, die nicht durch das Arzneimittelrecht abgedeckt sind, zum Beispiel bei bildgebenden Verfahren. „Zwar legt die Deklaration von Helsinki fest, dass man ausschließlich gruppennützige Forschung unter bestimmten Voraussetzungen in allen Forschungsbereichen machen darf, aber in Deutschland fehlt bislang eine explizite rechtliche Regelung. Vielleicht kommt jetzt eine Regelung, die diese Forschung auch außerhalb des Arzneimittelrechts ausdrücklich erlaubt.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Gesetzgeber erlaubt Studien an nicht einwilligungsfähigen Demenzkranken – Medizinethiker sehen Neuregelung skeptisch - Medscape - 15. Nov 2016.
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