Berlin – Bei Krankschreibungen stehen sie in Deutschland an erster Stelle: Rückenleiden und andere Muskel-Skeletterkrankungen, die nach einer aktuellen DAK-Analyse für mehr als jeden fünften Fehltag am Arbeitsplatz verantwortlich sind. In 60 bis 80% handelt es sich um unspezifische Kreuzschmerzen. „Um ernsthafte organische Ursachen von Rückenleiden auszuschließen, reichen fast immer die ausführliche Anamnese und eine fachkundige körperliche Untersuchung, Bildgebung brauchen Sie erst mal nicht dazu“, sagte Prof. Dr. Bernd Kladny, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) auf einer Pressekonferenz anlässlich des diesjährigen Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in Berlin [1].

Prof. Dr. Bernd Kladny
Nach Warnzeichen fahnden
Entscheidend für die Differenzierung zwischen unspezifischen und spezifischen Ursachen von Rückenschmerzen ist es, bei erster Anamnese und körperlicher Untersuchung gezielt nach Warnzeichen für ernsthafte Erkrankungen, sogenannten „Red Flags“, zu fahnden. Hierzu gehören gemäß der Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz Frakturen (auch durch Bagatelltraumen etwa bei Osteoporose), Anzeichen für ein Tumorleiden, Infektionen sowie vor allem auch Radikulo- und Neuropathien (straßenförmig in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen, Kaudasyndrom mit plötzlich einsetzender Blasen- oder Mastdarmstörung, zunehmendes neurologisches Defizit der unteren Extremität).
Werden solche Warnzeichen nicht gefunden, dann liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit unspezifische Kreuzschmerzen vor, die Kladny zufolge 60 bis 80% aller Probleme im Rücken ausmachen: „Die Therapie ist in diesen Fällen symptomatisch, bei Bedarf medikamentös, und statt sich zu schonen, sollten die Patienten aktiv bleiben. Bildgebung macht hier auch deshalb keinen Sinn, weil sie keinen Einfluss auf die Therapie hätte.“
Zwar bestehe bei nicht wenigen – technikgläubigen – Patienten der Wunsch nach einer „objektiven“ Beurteilung ihrer Beschwerden mittels Bildgebung – diese sei zumindest zum Zeitpunkt der Erstdiagnose ohne Warnzeichen aber unnötig.
Unspezifischer Kreuzschmerz hat meist eine gute Prognose
Wie Kladny schilderte, reicht die symptomatische Therapie bei akut aufgetretenen unspezifischen Kreuzschmerzen aus, damit rund 80% der Patienten innerhalb von 4 Wochen wieder beschwerdefrei werden. Bestehen jedoch aktivitätseinschränkende Schmerzen länger als 4 bis 6 Wochen oder nehmen gar zu, dann sei eine bildgebende Diagnostik genauso in Erwägung zu ziehen wie beim Vorliegen von Warnzeichen, so der Chefarzt der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie an der Fachklinik Herzogenaurach.
Die aussagekräftigsten Informationen liefert bei Rückenproblemen in der Regel die Magnetresonanztomografie (MRT), zum Teil sind jedoch auch konventionelle Röntgenaufnahmen indiziert. Dabei gilt: „Bildgebung alleine klärt das Symptom Kreuzschmerz nie auf. Auch für die Interpretation der Bilder sind Anamnese und fachkundige Untersuchung des Patienten unverzichtbar“, betonte der DGOOC-Generalsekretär.
Oft fehlt auch eine klare Wechselbeziehung zwischen subjektivem Befinden und radiologischem Befund. „Wenn Sie 100 Menschen ohne Rückenschmerzen in die Röhre legen, finden Sie bei mehr als der Hälfte Wirbelsäulen-Anomalitäten bis hin zu symptomlosen Bandscheibenvorfällen“, sagte Kladny. „Die ärztliche Kunst besteht deshalb immer darin, die Aussagekraft eines Bilds im Gesamtkontext zu beurteilen. Sonst kommen wir schnell zu völlig falschen Entscheidungen.“
Manche Erwartungen des Patienten sind zu korrigieren
Aufklärung und Beratung des Patienten kann in diesem Zusammenhang auch heißen, dessen Erwartungen hinsichtlich der Diagnostik zu korrigieren. Nicht wenige Kreuzgeplagte sind zufriedener und fühlen sich erst dann ernst genommen, wenn ein Bild von ihrem Rücken gemacht wird. „Für den Arzt ist es hier oft wesentlich einfacher, dem Druck durch den Patienten nachzukommen und ein Bild anzufordern“, räumte Kladny ein.
„Nur: In bestimmten Situationen braucht man einfach keine Bildgebung, denn sie würde zwar der Zufriedenheit, aber nicht dem Ergebnis dienen.“ Dies dem Patienten erfolgreich zu vermitteln, ist nicht immer einfach. Der Arzt braucht dafür nicht nur gewisse Kenntnisse in Gesprächsführung, sondern auch Zeit. „Zeitaufwendige Diagnostik und Aufklärung sind jedoch ebenso wie eine konsequente nicht operative Therapie vor allem im ambulanten Bereich in unseren Vergütungsstrukturen nur unzureichend abgebildet“, kritisierte Kladny.
Zu frühe Bildgebung kann schaden
Eine zu frühe und nicht aufgrund von Warnzeichen gerechtfertigte Bildgebung kann dem Patienten sogar schaden, wie der DGOOC-Generalsekretär erläuterte: „Wenn die Aufnahme Anomalitäten zeigt, die als krankhaft interpretiert werden können, dabei jedoch kein kausaler Zusammenhang mit den Schmerzen besteht, kann das trotzdem beim Patienten zu einer subjektiven Verschlimmerung seiner Beschwerden bis hin zu einer Chronifizierung führen.“
Aus diesem Grund lautet auch die Empfehlung der Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz: Bildgebende Untersuchung beim unspezifischen Kreuzschmerz erst nach 4 bis 6 Wochen. In den allermeisten Fällen wird dieser Empfehlung ärztlicherseits offenbar auch gefolgt.
Bei Bedarf multidisziplinäre Abklärung
Vor allem nicht spezifische Rückenschmerzen sind oft multifaktoriell bedingt und werden durch soziale und psychische Faktoren beeinflusst. Hier kann – bei drohender Chronifizierung oder bereits chronischen Schmerzzuständen – eine multidisziplinäre Abklärung wichtig werden: Dabei haben, so Kladny, multimodale, interdisziplinäre Behandlungsprogramme (z.B. in der Konstellation Arzt, Bewegungstherapeut und Psychologe) mit hoher Therapieintensität die besten Aussichten auf Erfolg. „Eine Chronifizierung droht bereits nach drei bis vier Monaten, leider jedoch werden solche Programme oft zu spät und dann weniger erfolgreich eingeleitet“, sagte Kladny im Gespräch mit Medscape.
Die Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz wird derzeit aktualisiert, mit der Neuauflage wird noch vor Ende dieses Jahres gerechnet.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Diagnostik beim Rückenschmerz: Anamnese und Klinik sagen mehr als tausend Bilder - Medscape - 11. Nov 2016.
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