Neue US-Leitlinie: Kalzium und Vitamin D erhöhen nicht das kardiovaskuläre Risiko – wenn der Patient sonst gesund ist

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

10. November 2016

Ob eine hohe Aufnahme von Kalzium bei ansonsten gesunden Menschen das kardiovaskuläre Risiko erhöht, wird kontrovers diskutiert. Das US-Institute of Medicine (IOM) initiierte daher eine Metaanalyse, um mögliche Folgen der Einnahme von Kalzium mit und ohne Vitamin D auf die kardiovaskuläre Gesundheit zu klären. Diese wurde aktuell publiziert in Annals of Internal Medicine [1]. Sie fand keinerlei signifikante Zusammenhänge. Darüber hinaus bestätigt sie aber, dass mit ausreichend hohen Kalziumspiegeln das Osteoporose-Risiko abnimmt.

 
Da in der untersuchten gesunden Kohorte insgesamt eine geringe kardiovaskuläre Ereignisrate auftrat, kann man die gefundene kleine relative Risikoerhöhung zu Recht als klinisch nicht relevant betrachten. Prof. Dr. Thorsten Lewalter
 

Als Konsequenz erklären die American Society for Preventive Cardiology und die National Osteoporosis Foundation in ihrer neuen Leitlinie, dass Kalzium – sowohl in der Ernährung als auch zusätzlich eingenommen – keine Wirkung auf kardiovaskuläre oder zerebrovaskuläre Erkrankungen oder damit verbundene Todesfälle bei gesunden Erwachsenen hat [2]. Eine Kalzium-Zufuhr unterhalb von 2.000 bis 2.500 mg pro Tag steigere diese Risiken nicht. Ein weiteres Ergebnisse der Metaanalyse:  Auch eine zusätzliche Gabe von Vitamin D beeinflusst das Risiko nicht, heißt es in der neuen Leitlinie.

Kein Risiko für „Gesunde“, aber für Vorbelastete vielleicht doch?

„Da in der untersuchten gesunden Kohorte insgesamt eine geringe kardiovaskuläre Ereignisrate auftrat, kann man die gefundene kleine relative Risikoerhöhung zu Recht als klinisch nicht relevant betrachten“, bestätigt Prof. Dr. Thorsten Lewalter, Chefarzt der Klinik für Kardiologie und Internistische Intensivmedizin der Kliniken Dr. Müller, München. Er schränkt aber auch ein: „Es sollte erwähnt werden, dass die Metaanalyse als Ganzes zu dieser Beurteilung kam, wohingegen einzelne Studien und Register, die Teil der Metanalyse waren, durchaus eine statistisch signifikante relative Risikoerhöhung von bis zu zehn Prozent zeigten.“

Die Autoren um Dr. Mei Chung vom Department of Public Health and Community Medicine der Tufts University in Boston, Massachusetts, nahmen 37 Publikationen in ihre Metaanalyse auf. In 10 der Publikationen wurden die Ergebnisse von 4 randomisierten kontrollierten Studien (RCT) referiert, die übrigen bezogen sich auf Kohortenstudien. Kardiovaskuläre Ereignisse wurden als sekundäre oder tertiäre Endpunkte in allen Studien dokumentiert.

„Insgesamt bedeuten die Ergebnisse, dass man für ‚ansonsten gesunde´ Osteoporose-gefährdete Patienten für die Kombination Vitamin D plus Kalzium eine Entwarnung geben kann“, meint auch Lewalter.

Das IOM, eine nichtstaatliche Nonprofit-Organisation, das als Teil der National Academy of Sciences, Engineering and Medicine eine nationale Beratungsfunktion wahrnimmt, empfiehlt nach den Ergebnissen der Metaanalyse für Männer und Frauen von 19 bis 50 Jahren eine Aufnahme von 1.000 mg Kalzium/Tag sowie für Frauen über 50 und Männer über 70 Jahren täglich 1.200 mg Kalzium. Dabei wird betont, dass auch eine höhere Kalzium-Aufnahme von 2.000 bis 2.500 mg pro Tag keine negativen Auswirkungen erwarten lasse.

Bestehen bereits kardiovaskuläre Risiken, werden diese möglicherweise verstärkt

 
Insgesamt bedeuten die Ergebnisse, dass man für ‚ansonsten gesunde‘ Osteoporose-gefährdete Patienten für die Kombination Vitamin D plus Kalzium eine Entwarnung geben kann. Prof. Dr. Thorsten Lewalter
 

In ihrer Diskussion bemerken die Autoren, dass – obwohl einige der Studien durchaus erhöhte Risiken für kardiovaskuläre Ereignisse zeigten – diese doch in der Gesamtanalyse gering waren (±10%). Eine sehr hohe Kalzium-Aufnahme, die nur durch Nahrungsergänzung möglich ist, erhöhe zudem das Risiko für Nierensteine. Die Beobachtung, dass unter Kalzium-Substitution vermehrt kardiovaskuläre Problematiken auftraten, beziehe sich auf Personen mit beeinträchtigter Nierenfunktion, nicht die Allgemeinbevölkerung.

„Die vorgelegte Metaanalyse ist sicher wichtig und hilfreich; auf viele praktisch-klinische Fragen gibt sie allerdings keine Antwort“, sagt Lewalter. „Wie interagiert die erhöhte Kalzium-Aufnahme oder -Zufuhr mit anderen kardiovaskulären Risikofaktoren, z.B. Nikotin-Abusus als aktives ‚Endothelgift´? Wie wird diese Situation moduliert, wenn noch ein erhöhter Blutdruck oder gar eine familiäre Belastung für das Auftreten von Herzinfarkten vorliegt? Leider bleiben diese Fragen weitgehend unbeantwortet, von daher sind hier weitere Datenerhebungen dringend nötig.“

Weitere Studien mithilfe von Daten der Krankenkassen möglich

Chung und Kollegen geben zu bedenken, dass eine Studie mit der notwendigen statistischen Aussagekraft, solche kleinen Unterschiede – wie den Anstieg kardiovaskulärer Risiken in weiten Teilen der Bevölkerung und verschiedenen Regionen der Erde – zu beweisen, nur schwer durchzuführen sei. Diese werde gegenwärtig auch nicht versucht.

 
Die vorgelegte Metaanalyse ist sicher wichtig und hilfreich; auf viele praktisch-klinische Fragen gibt sie allerdings keine Antwort. Prof. Dr. Thorsten Lewalter
 

Die US-Epidemiologen empfehlen daher prospektive populationsbasierte Kohortenstudien: Diese sollten die Kalzium-Aufnahme – durch Ernährung, Supplementierung und in Kombination – mit validierten Messmethoden dokumentieren sowie das Auftreten verschiedener kardiovaskulärer Problematiken über lange Zeiträume verfolgen. Dadurch könne man eventuelle Risiken besser bewerten.

„Das wäre genau der richtige Weg“, bestätigt auch Lewalter. „Es läge auch im Interesse der Krankenkassen, die hier mit ihren Daten zu einer Realisierung beitragen könnten. Vordringlich sind dazu große prospektive Register, die man für eine adäquate Hypothesengeneration als Basis einer Randomisierung benötigt. Ob die Analysen dann in Form von randomisierten Studien möglich sind, bleibt zu eruieren.“

 

REFERENZEN:

1. Chung M, et al: Ann Intern Med (online) 25. Oktober 2016

2. Kopecky SL, et al: Ann Intern Med (online) 25. Oktober 2016

 

Kommentar

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