„Choosing wisely” in Orthopädie und Unfallchirurgie: Gemeinsam mit dem Patienten entscheiden – auch bei der Endoprothetik

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

9. November 2016

Berlin – Die Internisten haben es vorgemacht, jetzt planen Orthopäden und Unfallchirurgen in Deutschland Ähnliches: Gemeinsam mit Patienten klug über die individuell am besten geeignete Diagnostik und Therapie zu entscheiden bzw. dafür entsprechende Empfehlungen zu formulieren. Hintergründe erläuterten Experten auf einer Pressekonferenz beim diesjährigen Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in Berlin [1].

Überversorgung und Unterversorgung identifizieren

Unter dem Begriff „Choosing wisely“ wurde eine solche Initiative bereits vor 5 Jahren in den USA ins Leben gerufen. Ihr Ziel: mittels eines offenen Dialogs zwischen Ärzten und Patienten unnötige medizinische Leistungen zu vermeiden. In Deutschland will man noch etwas weiter gehen und auch eine eventuelle Unterversorgung identifizieren.

„Choosing wisely umfasst prinzipiell zwei Bereiche“, erklärte Dr. Manfred Neubert, einer von 3 Kongresspräsidenten des DKOU 2016: „zum einen die Entwicklung von Leitlinien ergänzenden Empfehlungen, zum anderen die partizipative Entscheidungsfindung gemeinsam mit dem Patienten.“ Für letztere hat sich im englischen Sprachraum der Begriff „Shared Decision Making“ etabliert.

Für die Arzt-Patienten-Gespräche über unnötige Leistungen wurden in den USA sogenannte Top-5-Listen erstellt. In ausgewählten medizinischen Bereichen benennen sie jeweils 5 medizinische Maßnahmen, bei denen eine Überversorgung besteht bzw. im Einzelfall besprochen werden sollte. „Evidenzbasierten Positiv-Empfehlungen stehen Negativ-Empfehlungen für Maßnahmen gegenüber, bei denen eine Evidenz fehlt oder die möglicherweise sogar schädlich für den Patienten sein können“, so Neubert, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Sonneberger Orthopädiezentrum in Bremen.

 
Evidenzbasierten Positiv-Empfehlungen stehen Negativ-Empfehlungen gegenüber. Dr. Manfred Neubert
 

Besonderheiten bei Entscheidungen in der Orthopädie

In Fächern wie der Orthopädie fällt die Entscheidung zu einer medizinischen Maßnahme oft weniger eindeutig als in anderen Fachgebieten. So gibt es etwa für die Arthrose der großen Gelenke keine eindeutigen Laborparameter wie für Diabetes oder Nierenerkrankungen.

Schmerzen werden anamnestisch erfasst, und das Schmerzempfinden ist subjektiv. Auch die bildgebende Diagnostik liefert allein keine eindeutige Indikation. „Die Indikationsstellung ist relativ“, so Neubert, „hier könnte die `Klug entscheiden´-Initiative mit ihrer Betonung der Indikationsqualität hilfreich sein.“

Indikationsqualität vor Behandlungsqualität

Für den DKOU-Präsidenten ist vor der Behandlungsqualität an die Indikationsqualität zu denken. „Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns mit der Struktur-, Ergebnis- und damit Behandlungsqualität medizinischer Leistungen“, sagte Neubert. Immer wieder werde dabei jedoch die Indikationsqualität als Schritt davor außer Acht gelassen: „Was nützt es einem Patienten, wenn er eine perfekt implantierte Knie-Endoprothese bekommt, aber die Indikation dafür war nicht die richtige? Etwa weil die eigentliche Ursache der Schmerzen in der Wirbelsäule oder Hüfte lag.“

Endoprothetik kann – vor dem Hintergrund begrenzter medikamentöser Interventionsmöglichkeiten – eine gute Option sein, einem Arthrose-Patienten seine Schmerzen zu nehmen und ihn wieder beweglich zu machen. In der Orthopädie werde die Indikation zur Totalendoprothese (TEP) daher zusammen mit dem Patienten gestellt, so Neubert: „Das Problem besteht jedoch nicht nur darin, zu entscheiden, wer operiert werden soll, sondern auch, wer nicht operiert werden soll.“ Ob ein 85-Jähriger bei passablem Allgemeinbefinden noch eine Hüft-TEP bekommen soll oder nicht, sei letztendlich auch eine gesellschaftspolitische Entscheidung.

Keine unrealistischen Erwartungen wecken

„Viele Patienten wollen nicht mehr, dass über ihren Kopf entschieden wird, weil sie mit den Folgen der Entscheidungen leben müssen“, sagte Neubert. „Die Patienten sind oft gut informiert, fragen nach und wollen von den Ärzten vernünftige Antworten haben. Indikationen und Vorgehensweisen sind deshalb gemeinsam mit ihnen zu diskutieren und zu entwickeln.“

 
Das Problem besteht nicht nur darin, zu entscheiden, wer operiert werden soll, sondern auch, wer nicht operiert werden soll. Dr. Manfred Neubert
 

Richtige Aufklärung des Patienten bedeute in diesem Zusammenhang auch, bei ihm im Hinblick auf Therapieergebnisse keine unrealistischen Erwartungen zu wecken. Schwierig kann es allerdings werden, wenn bei Arzt und Patient unterschiedliche Erwartungshaltungen vorhanden sind – etwa wenn sich ein Patient unterversorgt fühlt, weil er meint, mit seinen Schmerzen nicht schnell genug adäquat behandelt zu werden.

„Klug entscheiden“-Empfehlungen sollen Leitlinien ergänzen

Nicht nur in der Orthopädie problematisch scheint immer wieder die Umsetzung der Leitlinien zu sein: „Leitlinien haben zweifellos ihre Berechtigung, sind aber im klinischen Alltag in vielen Fällen nicht angekommen“, gab Neubert zu bedenken. Die größten Probleme sind seiner Meinung nach dabei: Die Leitlinien werden als zu lang und zu kompliziert empfunden, weshalb viele Ärzte sie gar nicht kennen und anwenden. Erst recht kennen und verstehen die Patienten sie nicht, was ein Gespräch zwischen Arzt und Patient auf Augenhöhe unmöglich machen kann. Und es gibt kein Konzept, wie Leitlinien am besten umzusetzen sind.

Hier setzt „Choosing wisely“ bzw. „Klug entscheiden“ ein: „Dabei sollen als Ergänzung zu den Leitlinien einfacher formulierte Empfehlungen ausgesprochen werden, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden“, erklärte der DKOU-Präsident.

 
Leitlinien haben zweifellos ihre Berechtigung, sind aber im klinischen Alltag in vielen Fällen nicht angekommen. Dr. Manfred Neubert
 

Vorreiter auf dem Gebiet von „Choosing wisely“ in Deutschland ist die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Sie hat in diesem Jahr bereits eine ganze Reihe von „Klug entscheiden“-Empfehlungen formuliert und veröffentlicht. Entsprechendes diskutieren Orthopäden und Unfallchirurgen jetzt in ihren Fachgesellschaften.

Besser informierte Patienten

Prof. Dr. Uwe Niethard, ehemaliger Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), wies in diesem Zusammenhang in Berlin auf einen Indikationskatalog zur Knieendoprothetik hin, der derzeit verfasst wird: „Dabei ist festzustellen“, so Niethard, „dass wir mit der Indikationsqualität und Versorgungsrate für Knie-Endoprothesen in Deutschland gar nicht so schlecht liegen. Das ändert allerdings nichts daran, dass einzelne Patienten nach der Operation nicht mit dem Ergebnis zufrieden sind.“ Die Gründe dafür seien durch entsprechende Studien zur Ergebniserfassung zu überprüfen.

Bereits vorliegende Untersuchungen zur Effizienz von „Shared Decision Making“ in Orthopädie und Unfallchirurgie zeigen Niethard zufolge, „dass die Patienten durchschnittlich besser informiert sind, sich daraus eine Tendenz zur vermehrten konservativen Behandlung ergibt und die Patienten ihre individuelle Risikoeinschätzung besser umsetzen können“.

 

REFERENZEN:

1. Kongress-Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), 26. Oktober 2016, Berlin

 

Kommentar

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