Tod nach Medikamententest: Analyse der Teilnehmer-Daten zeigt Hirnschäden durch BIA 10-2474 – EMA reagiert

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

9. November 2016

Am 10. Januar 2016 war es im Universitätskrankenhaus Rennes zu einem tragischen Zwischenfall gekommen: Ein Freiwilliger, der zuvor im nahe gelegenen Forschungsinstitut Biotrial im Rahmen einer klinischen Phase-1-Studie an 5 aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 50 Milligramm des Wirkstoffs BIA 10-2474 erhalten hatte, wurde mit schweren neurologischen und motorischen Störungen eingewiesen. Die Ärzte der Klinik bemühten sich vergeblich, den Zustand des Mannes zu stabilisieren. Nachdem der 27-Jährige bereits für hirntot erklärt worden war, starb er eine Woche später am 17. Januar. 4 weitere Männer der gleichen Kohorte erlitten ähnliche Nebenwirkungen, überlebten den Medikamentenversuch jedoch.

Ein Ärzteteam der bretonischen Klinik um den Neurologen Prof. Dr. Gilles Edan hat die klinischen Symptome sowie MRT-Aufnahmen des Gehirns von 4 der 6 Patienten jetzt im Detail im Fachblatt New England Journal of Medicine (NEJM) vorgestellt [1]. Die anderen beiden  Studienteilnehmer hatten der Veröffentlichung ihrer Daten nicht zugestimmt.

Über welche Mechanismen BIA 10-2474 seine neurotoxischen Wirkungen im Körper der Probanden ausübte, können die Erstautorin des Artikels, Dr. Anne Kerbrat, und ihre Kollegen allerdings noch nicht erklären. An der Studie von Biotrial, in der die Substanz erstmals Menschen verabreicht worden war, sind die Autoren des Artikels nicht beteiligt gewesen.

Ein einziger Wirkstoff gegen eine Vielzahl von Krankheiten

Der Wirkstoff BIA 10-2474 gehört zur Gruppe der FAAH-Inhibitoren. Diese Arzneien hemmen das Enzym Fettsäureamid-Hydrolase (Fatty acid amide hydrolase, kurz FAAH), ein Schlüsselenzym im Endocannabinoidsystem. FAAH beeinflusst die Menge körpereigener Cannabinoide und stellt aus diesem Grund eine interessante Zielstruktur für Medikamente dar. Der Hersteller von BIA 10-2474, das portugiesische Pharmaunternehmen Bial, das die klinische Studie an 128 gesunden Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren finanziert hatte, wollte den oral einzunehmenden Wirkstoff offenbar gegen eine ganze Reihe von Krankheiten testen. Unter anderem hoffte man darauf, mit der Substanz künftig Schmerzen, Bluthochdruck, Epilepsie, Parkinson, multiple Sklerose, Angstzustände und Depressionen lindern zu können.

Wie Kerbrat und ihre Kollegen berichten, hatten bereits 84 Probanden den Wirkstoff geschluckt, bevor es zu den ersten Zwischenfällen kam. Diese Teilnehmer hatten entweder Einzeldosen zwischen 0,25 und 100 Milligramm oder 10 Tage lang tägliche Dosen zwischen 2,5 und 20 Milligramm erhalten. Sie alle haben den Medikamentenversuch offenbar unbeschadet überstanden.

Allerdings sind die Akten dieser Probanden, ebenso wie der Autopsie-Bericht des Verstorbenen, nicht frei zugänglich. Von den Freiwilligen in der Kohorte, in der erstmals – und dann gleich massive – neurologische Störungen auftraten, sollten 2 Probanden ein Placebo und 6 Teilnehmer 5 Tage lang jeweils 50 Milligramm des Wirkstoffs erhalten. Von 4 dieser 6 Probanden im Alter zwischen 27 und 49 Jahren liegen jetzt die Details der Nebenwirkungen vor.

Im MRT zeigten sich zerebrale Läsionen

Demnach kam es bei 3 der 4 Studienteilnehmer gegen Ende der 5-tägigen Einnahme zu Kopfschmerzen und einem Kleinhirnsyndrom, verbunden mit zerebellärer Ataxie und Muskelhypotonie. Darüber hinaus litten diese Probanden an Gedächtnisstörungen und Bewusstseinseinschränkungen. Die Bilder des Magnetresonanztomografen zeigten bei den betroffenen Studienteilnehmern bilaterale und symmetrische zerebrale Läsionen mit Mikroblutungen und Hyperintensitäten in FLAIR- und DWI-Sequenzen vor allem in Pons und Hippocampus. Einer der 3 Studienteilnehmer starb bekanntlich, die beiden anderen erholten sich langsam. Allerdings litt der eine noch längere Zeit an Gedächtnisstörungen, der andere am zerebellären Syndrom. 

Das Team um Kerbrat geht davon aus, dass es tatsächlich der untersuchte Wirkstoff und nicht etwa eine mögliche Verunreinigung oder Beimischung war, die die toxischen Effekte hervorgerufen hat. Zum einen hätten alle Probanden der Studie die gleichen Kapseln erhalten, schreiben sie. Zum anderen hätten Untersuchungen ergeben, dass die darin enthaltene Substanz von hoher Reinheit war. Die Forscher gehen davon aus, dass der Wirkstoff im Körper der Probanden langsamer als zuvor angenommen abgebaut wurde, wodurch er sich ansammelte und auf diese Weise seine gravierenden Nebenwirkungen entfalten konnte.

Neue EMA-Richtlinien sollen Probanden besser schützen

Aufgrund des Todesfalls von Rennes überarbeitet die europäische Arzneimittelbehörde EMA (European Medicines Agency) derzeit ihre Richtlinien für die Durchführung von „First in Human“-Studien. Unter anderem sollen pharmakokinetische und pharmakodynamische Daten bei der Risikoeinschätzung eines neuen Wirkstoffs künftig noch stärker als bisher berücksichtigt werden. „Phase-1-Studien sind generell sicher“, schreiben die italienischen Mediziner Prof. Dr. Sergio Bonini und Prof. Dr. Guido Rasi von der EMA in einem Editorial im NEJM [2].

Das zeige sich auch daran, dass es seit dem Jahr 2005 nur bei 2 von rund 14.700 dieser Untersuchungen – davon 3.100 „First in Human“-Trials – zu ernsthaften Zwischenfällen gekommen sei. Trotzdem hoffe man, mit den überarbeiteten Richtlinien künftig Strategien zur Verfügung zu stellen, um mögliche Risiken für die Probanden noch besser zu identifizieren und weiter zu verringern.

REFERENZEN:

1. Kerbrat A, et al: NEJM 2016;375:1717-25

Kommentar

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