Mannheim – Als „Durchbruch in der Akuttherapie einer Untergruppe von Schlaganfallpatienten“ bewertet Prof. Dr. Martin Köhrmann, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, das Verfahren der Thrombektomie. „Standard vor der Thrombektomie bleibt allerdings die frühe Lyse“, stellte Köhrmann beim Präsidentensymposium auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) klar [1].
Die Studien zur Thrombektomie sind überwältigend positiv ausgefallen, erinnerte Köhrmann. Eindrucksvoll ist vor allem die niedrige Zahl von lediglich 2 bis 5 – sorgfältig ausgewählten – Patienten mit einem proximalen Gefäßverschluss, die behandelt werden müssen (Number Needed To Treat, NTT), um eine schwerwiegende bleibende Behinderung zu verhindern. Nun müsse die Umsetzung in die klinische Realität mit großer Sorgfalt und Ordnung erfolgen, mahnte Köhrmann.
Kritik an Interventionen durch Kardiologen
Wie viele seiner Kollegen auf dem Kongress verwahrte auch er sich gegen Vorstöße aus der Kardiologie, das Verfahren in Eigenregie durchzuführen. „So weit kommt es noch“, sagte Köhrmann mit Blick auf einen Bericht zur PRAGUE-16 Studie, eine Registeruntersuchung, die kürzlich auf dem Europäischen Kardiologenkongress (ESC) in Rom präsentiert wurde. Dabei hatten Neurochirurgen lediglich die Indikation für eine Thrombektomie gestellt, die dann ohne vorherige Thrombolyse von interventionellen Kardiologen oder Radiologen durchgeführt wurde.
Die zur Thrombektomie befähigten Einrichtungen sind allerdings in Deutschland unterschiedlich dicht gestreut: mit vielen regionalen Stroke Units im Rheinland und in Berlin und vergleichsweise wenigen Einrichtungen in Bayern und Baden-Württemberg. Zu oft werde übergangen, dass die Thrombektomie in den Studien meist als Add-On-Therapie zu einer Lyse angewandt wurde, die wiederum – obwohl die Wirksamkeit schon seit 20 Jahren gut belegt ist – immer noch nicht flächendeckend implementiert ist.
Wann immer eine Thrombolyse möglich ist, sollte diese auch unverzüglich erfolgen – ungeachtet der Möglichkeit einer späteren Thrombektomie. Jede Minute ohne Behandlung entspräche laut Schätzungen dem Verlust von 1,9 Millionen Neuronen und 12 Kilometern myelinierter Nervenfasern. Dem „drip-and-ship“-Konzept kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu, sagte Köhrmann, denn die Therapie beginnt damit bereits auf dem Weg zum nächsten Zentrum. Die Datenlage dazu sei allerdings unbefriedigend, räumte Köhrmann ein. In der eigenen Kohorte würden jedoch etwa 40% dieser Patienten thrombektomiert.
Die Schätzungen darüber, wie viele Patienten im Idealfall von einer Thrombektomie profitieren könnten, gehen weit auseinander. Auf dem DGN-Kongress kursierten Zahlen zwischen 3 und 15%. Legt man die Kriterien der maßgeblichen Studien an, wären es nur etwa 1% aller Schlaganfallpatienten, für die sich eine NTT von 5 ableiten lässt, rechnete der Neurologe vor. Klar ist, dass dies von der Länge des Transportwegs abhängig ist, aber auch von den vorgeschalteten Maßnahmen und den Zulassungskriterien für die jeweiligen Einrichtungen.
In den Studien waren die Hürden vergleichsweise hoch: Beispielsweise mussten teilnehmende Zentren an der REVASCAT-Studie mindestens 60 Interventionen pro Jahr vorweisen. „Eine Ausdehnung der Intervention auf eine breitere Patientengruppe muss in der klinischen Praxis sorgfältig begleitet werden“, forderte deshalb Köhrmann.
Regional unterschiedliche Abläufe
Einstweilen werde sich eine „gewissen Zentralisation“ aufgrund der erforderlichen Expertise nicht vermeiden lassen. Um möglichst viele Patienten zu erreichen, dürfe man aber nicht nur die Intervention per se betrachten. Vielmehr komme auch der Vernetzung auf regionaler Ebene große Bedeutung zu, wobei unterschiedlich geregelte rettungsdienstliche Abläufe durchaus ihre Berechtigung haben könnten.
„Wir Neurologen sollten uns vor Verallgemeinerungen hüten und keine Schlussfolgerungen für die Versorgungsstrukturen ziehen, die nicht durch Studien gedeckt sind“, so Köhrmann. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass der eindeutig nachgewiesene Nutzen der Thrombektomie bei der Umsetzung in die Praxis verloren geht.
REFERENZEN:
1. 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 21. bis 24. September 2016, Mannheim
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Diesen Artikel so zitieren: Thrombektomie: „Durchbruch in der Akuttherapie für eine Untergruppe von Schlaganfallpatienten“ - Medscape - 3. Nov 2016.
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