Oldenburg – Ärzte und Pflegende in Krankenhäusern leben offenbar ungesund: „Zehn bis 30 Prozent von ihnen erfüllen die Zustandsbezeichnung ‚Burnout‘, da sie besonders von aufreibenden Arbeitssituationen betroffen sind“, sagte der Psychiater und Leiter des Deutschen Resilienzzentrums in Mainz Prof. Dr. Oliver Tüscher auf den Oldenburger Resilienztagen, die das Klinikum der Stadt veranstaltet hat [1]. Tüscher rät davon ab, erst dann zu behandeln, wenn die Stressfolgen bereits da sind. Vielmehr solle rechtzeitig die Resilienz, also die Widerstandskraft des Einzelnen gestärkt werden. Aber wie? Auch die Grundlagenforschung steht hier noch am Anfang.
Tragischer Anlass: Die Patientenmorde des Krankenpflegers Niels H.
Anlass für die Oldenburger Resilienztage waren die Patientenmorde des ehemaligen Krankenpflegers Niels H. im Klinikum Oldenburg. Wahrscheinlich hätte eine höhere Widerstandskraft gegen den Stress auf den Intensivstationen die Verbrechen des Niels H. nicht verhindert. „Aber wie kann ich damit klarkommen, dass ich als Pflegende oder als Arzt mit Niels H., dem Pfleger, der mordete, zusammengearbeitet habe – und nichts bemerkte?”, sagt die Journalistin und Buchautorin Dr. Christina Berndt. Auch sie hat auf der Oldenburger Tagung gesprochen [2].
Ärzte sind besonders gefährdet
Vor allem Ärzte in Kliniken haben – was seelische Leiden angeht – offenbar ein besonders hohes Stress-Risiko. Denn ihr Arbeitsplatz und die Arbeitsumstände sind für einen gesunden Arbeitsalltag oft nicht geeignet, sagt Tüscher gegenüber Medscape: „Besonders gesundheitsgefährdend ist die Einschränkung der Lebensqualität durch Unkollegialität, also durch Mobbing.” Sehr lange Arbeitszeiten, schwer kranke und sterbende Patienten, das alt hergebrachte Hierarchiegefüge, die immer noch geringe Teamorientierung, das Einzelkämpfertum auf den Stationen, der Personalmangel und die daraus resultierenden Überstunden und schließlich die Ökonomisierung sowie Bürokratisierung tun ihr Übriges.
Viele Ärzte und Pflegende klagen bereits über Burnout. „Er ist erkennbar, wenn sich zur Erschöpfung auch Zynismus und Leistungsminderung gesellen”, sagt Tüscher. Die Betroffenen werden labiler, lassen sich schneller aus der Contenance bringen, vergessen Verabredungen. Die Folgen sind seelische Erkrankungen. Die Prävalenz psychischer Erkrankungen wie Angst und Depressionen sowie von Suchtmittelmissbrauch sei bei Ärzten erhöht, so Tüscher. Der Risikoumgang mit Alkohol beispielsweise liege im Vergleich zur Normalbevölkerung um rund 15% höher. Die Prävalenz für ein Suizid sei im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 1,3- bis 3,4-Fache erhöht.
Rechtzeitig Resilienz stärken
Viel Arbeit für Psychotherapeuten? Wohl wahr. Aber Tüscher setzt an andere Stelle an. Die Erschöpften bräuchten rechtzeitig die Fähigkeiten eines Schwammes, meint der Mainzer Psychiater. Denn wie sehr man einen Schwamm auch zerdrücke und quetsche – immer springt er danach in seine alte Form zurück. Er ist vollkommen „resilient”, ein Begriff der ursprünglich aus der Materialwissenschaft stammt. Übertragen auf den Stationsstress sei Resilienz die „Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Rückgewinnung der psychischen Gesundheit während oder nach widrigen Lebensumständen”.
So können Menschen nach einer traumatischen Erfahrung tatsächlich ihre vorherige Verfassung wiedergewinnen oder unbeeindruckt von einer Krise die alte Form bewahren, „oder sie können durch die Krise sogar zu einem posttraumatischen Wachstum kommen”, sagt Tüscher.
Resilienz ist aber kein Zustand, sondern ein lebenslanger, aktiver und dynamischer Prozess. Ob Resilienz vorhanden ist, zeigt sich daran, „ob der Betroffene nach dem Trauma psychisch funktioniert”.
Resilienz trainieren
Tüscher und seine Kollegen wollen nun erforschen, welche Gehirnfunktionen für Resilienz verantwortlich sind und ob und wie man sie messen kann. „Vielleicht können wir eines Tages vorhersehen, wie ein Mensch sich nach großen Belastungen verhalten wird”, sagt Tüscher zu Medscape. „Und wenn wir die Gehirnfunktionen verstehen, verstehen wir auch die Schutzfunktionen und ob und wie sie trainierbar sind”, so Tüscher weiter.
Bisher gebe es noch keine neurowissenschaftliche Resilienzforschung in Europa. Schon jetzt testen er und seine Kollegen Trainings für „Risikopersonen”, unter anderem für Ärzte. Aber: „Wir bieten es nicht allgemein an, damit sich belastete Vielarbeiter womöglich noch mehr ausbeuten.”
Auch Unternehmen können resilient sein
Im Hinblick auf Unternehmen wie etwa Krankenhäuser verweist die Journalistin Berndt auf den Umstand, dass auch diese Resilienz entwickeln können – oder eben nicht. „Es gibt Unternehmen, die stehen Krisen durch und solche die es nicht tun”, sagt sie. Und tatsächlich bräuchten die beiden Krankenhäuser in Delmenhorst und Oldenburg, in denen der ehemalige Pfleger Niels H. tötete, genau diese Resilienzentwicklung. Denn zumindestens in Delmenhorst sackten die Patientenzahlen aufgrund der Klinikmorde deutlich ab. Das verunsichert auch die Mitarbeiter.
„Der einzelne Mitarbeiter und auch ein Unternehmen braucht – um resilient zu sein – die Erfahrung, selbst etwas bewirken zu können”, sagt Berndt. Und diese Selbstwirksamkeit ist nur in Unternehmen möglich, in denen die Mitarbeiter zum Beispiel ein Mitspracherecht haben und auch gehört werden.
Der Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg, Dr. Dirk Tenzer, hatte die Oldenburger Veranstaltung angeregt. Um die Folgen von Arbeitsstress von Intensivpflegenden zu mindern, setze er nicht etwa auf die Rotation von Intensivpflegenden, sie also zwischendurch auf Normalstationen einzusetzen, um die Belastung vorübergehend zu senken. Dazu seien die Nähe der Pflegenden zur Medizin und ihre Suche nach Herausforderungen zu groß. „Sie sollen vielmehr lernen, mit dem Erlebten besser klarzukommen”, so Tenzer weiter.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oldenburger Klinikums haben die Resilienztage offenbar sehr interessiert aufgenommen. „Wir waren vollkommen überrascht, dass so viele Menschen zu den Auftaktveranstaltungen gekommen sind”, sagt Rita Wick, Organisatorin der Veranstaltungen. Mehr als 1.000 Besucherinnen und Besucher, viele davon aus dem Klinikum, kamen in die öffentlichen Vorträge und Diskussionsrunden.
REFERENZEN:
1. Oldenburger Thementage Resilienz, 19. bis 23. Oktober 2016, Oldenburg
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Oldenburger Resilienztage wegen der Patientenmorde des Pflegers Niels H.: Resilienztraining gegen Burnout im Krankenhaus? - Medscape - 2. Nov 2016.
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