Steigende Zahlen sexuell übertragbarer Krankheiten – neue Herausforderungen für die Gesundheitssysteme

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

2. November 2016

Die US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) schlagen Alarm. Im Sexually Transmitted Disease Surveillance Report 2015 berichten sie vom rapiden Anstieg sexuell übertragbarer Krankheiten (STD). Die Forscher verglichen dabei alle Daten mit dem Vorjahr [1].

Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer

Sie berichten von rund 1,5 Millionen Infektionen mit Chlamydien (plus 6%), 400.000 Gonorrhoe-Fällen (plus 13%) und 24.000 Patienten mit primärer oder sekundärer Syphilis (plus 19%). Besonders häufig erkranken Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren. Zwei Drittel aller Chlamydien-Diagnosen und die Hälfte aller Gonorrhoe-Diagnosen fielen in diese Gruppe. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), gelten nach wie vor als Risikogruppe.

Medscape fragte Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer nach möglichen Erklärungen für die hohen Zahlen. Er leitet die Interdisziplinäre Immunologische Ambulanz am Walk In Ruhr (WIR) – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin, Bochum. Gleichzeitig ist Brockmeyer Direktor für Forschung und Lehre an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Ruhr-Universität Bochum. „Es gibt viele Gründe, die ähnlich sind wie in Deutschland“, sagt er. „Darüber hinaus gibt es noch typisch amerikanische Ursachen.“

Soziale Ungleichheit und Tabuisierung

Als typisch amerikanisches Problem bewertet der Experte, dass die medizinische Versorgung dort deutlich zurückgefahren worden ist. In den USA fehlen Gelder für Aufklärungsprogramme und Screenings. Auch die Arzneistoffe zur leitliniengerechten Therapie sind nicht für alle Bürger verfügbar. „Hinzu kommt die sehr gravierende soziale Schichtung“, erläutert Brockmeyer. „Bei African Americans, Native Americans und Hispanics sind die STI-Zahlen deutlich höher als bei weißen Amerikanern.“

In vielen Staaten gibt es in punkto Sexualität eine gewisse Zurückhaltung bis hin zur Prüderie. Sexuell übertragbare Infektionen (STI) gelten als Tabuthema. Zudem ist die Prostitution in allen Bundesstaaten mit Ausnahme von Nevada strafbar, was zu einer Verlagerung in die Anonymität führt. Die genauen Regelungen unterscheiden sich regional. Teilweise werden Angebot und Inanspruchnahme von Prostitution geahndet, teilweise geduldet. Brockmeyer geht davon aus, dass 30% oder mehr aller Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter an STI leiden: „Betroffene können weder erreicht noch untersucht werden.“

 
Der Gesundheitsbericht aus den USA sollte eine Warnung sein, unser Gesundheitssystem besser aufzustellen. Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer
 

Abgesehen von diesen typisch amerikanischen Phänomenen sind aber viele Probleme mit denen in Deutschland vergleichbar. 

Riskante Verhaltensweisen

So stehen moderne Technologien wie das Internet in einem engen Zusammenhang mit STI. Bei elektronischen Dating-Systemen über Apps oder Chatrooms greifen Aufklärungskampagnen in der Regel nicht. Die Anbahnung sexueller Kontakte wird immer leichter. Viele User dieser Portale denken, man kenne sich und brauche kein Kondom.

Neue Trends wie das „Slamming“ (der intravenöse Konsum synthetischer Drogen) oder Chem-Sex (der Geschlechtsverkehr unter Drogeneinfluss) haben Deutschland längst erreicht. Riskante Praktiken kommen hinzu. 

Warnung für Deutschland

 
Wir dürfen nicht nur symptomorientiert, sondern müssen risikoorientiert handeln. Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer
 

„Der Gesundheitsbericht aus den USA sollte eine Warnung sein, unser Gesundheitssystem besser aufzustellen“, sagt Brockmeyer. „Sexualität darf kein Tabuthema sein, was momentan in Deutschland nicht die einfachste Forderung ist.“

Die Arbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sei zwar gut, müsse aber verstärkt werden. Beispielsweise sei die BZgA für ihre Aufklärungskampagnen angefeindet worden. Brockmeyer weiter: „Man sieht, es gibt Gruppierungen in Deutschland, die keine Liberalität wünschen. Von daher ist es heute sicher schwieriger als vor 10 Jahren, Aufklärungskampagnen zu machen.“ Hier fehle die reale Wahrnehmung: Schon 10-jährige Kinder würden auf ihren Smartphones Pornos ansehen.

Brockmeyer rät zu mehr Präsenz in elektronischen Medien. „Und wir müssen alle Schichten gleichmäßig erreichen.“ Dazu gehören seiner Ansicht nach speziell Migranten. In dieser Gruppe gibt es momentan keine Auffälligkeiten hinsichtlich STI. Manche Frauen und Männer könnten aber aus wirtschaftlicher Not heraus der Prostitution nachgehen, befürchtet der Experte. Angebote zur Untersuchung und zur Therapie gibt es kaum.

Andere Bevölkerungsgruppen stehen ebenfalls im Fokus. Bis zu 19% aller jungen Deutschen sind mit Chlamydien infiziert. Der Schnitt über alle Altersgruppen hinweg liegt bei ca. 5%. „Auch da kümmern wir uns nicht ausreichend“, kritisiert Brockmeyer. „Wir dürfen nicht nur symptomorientiert, sondern müssen risikoorientiert handeln.“ Schätzungsweise 80 bis 90% dieser jungen Menschen haben trotz STI keine Beschwerden. Sie sollten ihr Risikoverhalten kritisch überdenken und sich gegebenenfalls beim Arzt untersuchen lassen.

Dass medizinische Präventionsangebote bei Versicherten nicht sonderlich beliebt sind, wissen Mediziner aus eigener Erfahrung. Nur wenige Prozent der Frauen nehmen Screening-Angebote auf Chlamydia trachomatis-Infektionen in Anspruch. Bei HPV-Impfungen sieht die Sache nicht besser aus. Brockmeyer schätzt, dass hierzulande 40% aller Mädchen diesen Schutz haben. In Australien ist die gesamte Population an Mädchen durchgeimpft. Dort folgen jetzt Angebote für Jungen.

Diese Strategie zahle sich auch gesundheitsökonomisch aus. Selbst bei Frauen stehe Gebärmutterhalskrebs nicht mehr an erster Stelle der HPV-induzierten Tumore. „Es ist günstiger, eine Vakzine zu verabreichen, anstatt später Kondylome oder Kehlkopfkrebs zu behandeln,“ weiß der Experte.

 

REFERENZEN:

1. Centers for Disease Control and Prevention: Sexually Transmitted Disease Surveillance Report 2015

 

Kommentar

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