Mannheim – Nicht nur Menschen, sondern auch Computer können lernen – und zwar zunehmend schneller und besser. Welchen Einfluss dies unter anderem auf die Medizinversorgung der Zukunft haben könnte erforscht Prof. Dr. Klaus-Robert Müller, Fachgebietsleiter für Maschinelles Lernen von der TU Berlin. Auf dem Deutschen Neurologenkongress berichtet er, wie die Schnittstelle Computer-Gehirn das Leben von Patienten mit Locked-In-Syndrom grundlegend verbessern könnte, und welche Risiken die Anwendung künstlicher Intelligenz in der medizinischen Praxis mit sich bringt.

Prof. Dr. Klaus-Robert Müller
© FhG FIRST/TU Berlin
Medscape: Bei Ihrem Vortrag haben Sie ein aktuelles Forschungsprojekt vorgestellt, das Patienten dabei helfen soll, allein mit ihren Gedanken zu kommunizieren. Wie genau funktioniert das sogenannte Brain-Computer-Interface?
Prof. Dr. Müller: Hirnsignale werden mithilfe von einer Elektrodenkappe gemessen und online dekodiert. Der Computer sucht dann nach einer Funktion, die die unterschiedlichen Hirnzustände optimal voneinander trennen kann. Patienten können dann lernen, diese unterschiedlichen Hirnzustände zur Kommunikation zu nutzen – beispielsweise, indem sie einen Cursor auf einem Bildschirm förmlich mit ihren Gedanken bewegen.
Wir haben Studien dazu mit verschiedenen Kliniken und Reha-Zentren durchgeführt. Ziel ist es dabei gewesen, ALS-Patienten diese andere Art der Kommunikation beizubringen, damit sie auch noch in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium kommunizieren können.
Medscape: Wie lange dauert es, bis ein Patient eine Tastatur allein mit seinen Gedanken bedienen kann?
Prof. Dr. Müller: Bei vorangehenden Studien waren oft 50 Training-Sessions nötig, da die Aufmerksamkeitsspanne von Patienten durch die Krankheit oftmals eingeschränkt ist. Wir konnten mit unserem System allerdings zeigen, dass Patienten bereits nach der 3. Session anfangen können, zu kommunizieren [1].
Allerdings muss man dazu sagen, dass die Erfolge sehr unterschiedlich waren. Wir dürfen nicht erforschen, ob Patienten mit dem BCI besser als ohne es kommunizieren können. Wer einen Knopf hat und diesen noch gut bedienen kann, sollte ihn auch benutzen. Stattdessen sollten wir zeigen, dass Patienten mit dem BCI besser als mit bereits etablierten Techniken kommunizieren. Interessanterweise gab es vor unserer Studie fast keine, die das zeigen konnte.
Unsere Technik hat es tatsächlich einem Schwerkranken ermöglicht, besser als mit anderen unterstützenden Technologien zu kommunizieren. Viel wegweisender könnte das BCI allerdings in einem anderen Krankheitsstadium sein, nämlich wenn sich ein ALS-Patient bereits im Locked-In-Status befindet, sich gar nicht mehr bewegen und somit auch keinen Knopf mehr benutzen kann. Wir sollten die Zeit davor nutzen, um Patienten den Umgang mit den BCI beizubringen, um ihnen so zu ermöglichen, auch noch in diesem kritischen Stadium weiter kommunizieren zu können.
Medscape: Maschinelles Lernen kann nicht nur dabei helfen, verschiedene Gehirnzustände zu unterscheiden. Erst in diesem Jahr hat die TU Berlin als erste Universität 4 neue Hochleistungsserver von Facebook erhalten, um diese unter anderem für die medizinische Forschung zu nutzen. Was für Forschungsprojekte sind dabei geplant?
Prof. Dr. Müller: Diese Rechner sollen unter anderem in Zusammenarbeit mit der Charité Berlin zur Verbesserung der Brustkrebsdiagnostik eingesetzt werden.
Medscape: Welche Gefahren müssen wir bei der Integration von künstlicher Intelligenz in den medizinischen Alltag beachten?
Prof. Dr. Müller: Derartige System dürfen nicht zu „Black Boxen“ werden – es ist unverantwortlich, wenn man nicht genau weiß, wie ein Instrument zu einer Diagnose gelangt. Denn es besteht immer die Gefahr, dass dieses Instrument etwas ganz anderes als gedacht beurteilt – zum Beispiel die Assay-Qualität, anstelle der Krankheit des Patienten.
Glücklicherweise kenne ich keinen Arzt, der einem künstlichen System die alleinige Verantwortung übergibt. Big Data und AI sollten Ärzte bei ihrem Entscheidungsprozess allenfalls unterstützen, und sie keinesfalls ersetzen. Tatsächlich können sie dabei sehr hilfreich sein, weil sie weltweit verfügbare Informationen sauber zusammenfassen und in einen sinnvollen Kontext bringen können. Am Ende muss aber immer der Arzt selbst entscheiden, ob er mit der vorgeschlagenen Diagnose einverstanden ist oder nicht. Ärzte müssen die Grenzen künstlicher Systeme kennen, und Ergebnisse kritisch bewerten. Unter diesen Voraussetzungen bieten Big Data und AI phänomenale Optionen, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern.
REFERENZEN:
1. 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 21. bis 24. September 2016, Mannheim
2. Höhne, J, Tangermann M: PLOS ONE, 2. Juni 2014.
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Diesen Artikel so zitieren: Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz: „Ärzte müssen die Grenzen kennen“ - Medscape - 26. Okt 2016.
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