Die Kombination aus Inotuzumab und Ozogamicin (IO) – ein monoklonaler Antikörper und ein Chemotherapeutikum – führt bei rezidivierender oder refraktärer Akuter Lymphatischer Leukämie (ALL) zu einer knappen Verdreifachung der Remissionsrate und verlängert das Gesamtüberleben signifikant, so das Ergebnis der INO-VATE ALL-Studie [1].
Prof. Dr. Hagop M. Kantarjian vom MD Anderson Cancer Center der Universität von Texas in Houston und Kollegen randomisierten für ihre Studie 326 Erwachsene mit rezidivierender oder refraktärer ALL auf Inotuzumab/Ozogamicin oder Standard-Intensiv-Chemotherapie. Primäre Endpunkte waren die komplette Remission und das Gesamt-Überleben. Die Remissionsrate lag bei 80,7% in der IO-Gruppe vs 29,4% unter Chemotherapie (p<0,001), das Gesamtüberleben bei 7,7 vs 6,7 Monaten (HR: 0,77, p = 0,04).
„Die Studienergebnisse sind sehr relevant, es handelt sich ja fast um eine Verdreifachung der Remissionsrate“, kommentiert Prof. Dr. Matthias Stelljes, Bereichsleiter des Knochenmarktransplantationszentrums des Universitätsklinikum Münster im Gespräch mit Medscape.
Laut Stelljes kommt ein weiterer Vorteil der Therapie mit Inotuzumab/Ozogamicin hinzu: Während eine konventionelle Chemotherapie bei rezidivierender und refraktärer ALL immer stationär erfolgen muss, kann die Therapie mit IO ambulant durchgeführt werden. Stelljes weist noch auf einen weiteren Aspekt hin: Im Ergebnis kommt es unter Inotuzumab/Ozogamicin zu deutlich höheren Transplantationsraten, die maßgeblich zum besseren Langzeitüberleben in der Studie beitragen.
Von den Patienten mit kompletter Remission lag ein höherer Prozentsatz unter der Grenze einer minimalen Resterkrankung (MRD, 0,01% Myeloblasten): 78,4% vs 28,1% (p < 0,001). Unter IO war auch die Dauer der Remission länger: 4,6 vs 3,1 Monate (HR: 0,55, p = 0,03). In der IO-Gruppe war das progressionsfreie Überleben signifikant länger: 5,0 Monate vs 1,8 Monate (HR 0,45, p < 0,001). Die meisten Grad 3-Nebenwirkungen unter IO waren leberbezogen. Unter IO traten venookklusive Lebererkrankungen bei 15 Patienten auf, unter Chemotherapie bei einem Patienten.
Therapieoption für Patienten, für die eine Transplantation vorgesehen ist

Prof. Dr. Alwin Krämer
„Die Studie ist solide gemacht, da gibt es wenig dagegen einzuwenden. Die Zahl der Probanden ist vernünftig, die meisten der gewählten Endpunkte sind signifikant und die Unterschiede zwischen der Kombinations- und der Chemotherapie-Gruppe sind zum Teil erheblich“, bestätigt auch Prof. Dr. Alwin Krämer, Leiter der Klinischen Kooperationseinheit Molekulare Hämatologie/Onkologie der Medizinischen Klinik V, Universität Heidelberg und dem Deutschen Krebsforschungszentrum DKFZ, gegenüber Medscape.
Die Wirksamkeit der Kombinationstherapie beschreibt Studienleiter Kantarjian in einer Pressemitteilung von Pfizer als „beeindruckend“ und weist auf das mediane progressionsfreie Überleben, die hohen Raten an hämatologischer Remission und das Nichtvorhandensein minimaler Resterkrankungen hin. Er fährt fort: „Unsere Resultate legen nahe, dass Inotuzumab/Ozogamicin eine neue wertvolle Ergänzung zu den gegenwärtigen Therapieoptionen der akuten lymphatischen Leukämie sein könnte“.
Auch nach Ansicht von Matthias Stelljes werden die Studienergebnisse die Therapie der rezidivierenden und therapierefraktären ALL beeinflussen. „Speziell für Patienten die frühe Rezidive aufweisen, wird eine konventionelle Chemotherapie immer weniger relevant sein.“ Denn gerade für Patienten mit Therapieversagen und Patienten mit frühen Rezidiven kommt die Therapie mit dem Chemoimmunkonjugat Inotuzumab/Ozogamicin infrage. In Anbetracht der relativ kurzen Ansprechdauer von im Median 6 Monaten betont Stelljes, dass die Therapie mit Inotuzumab/Ozogamicin nur mit einem Anschlusskonzept durchgeführt werden sollte, also bei Patienten für die z.B. eine Stammzelltransplantation vorgesehen ist.
Venookklusive Lebererkrankungen: Mechanismus sollte besser untersucht werden
IO ist eine Kombination aus dem Chemotherapeutikum Calicheamicin, das die Tumorzell-DNA schädigt und zur Apoptose treibt, sowie dem monoklonalen Antikörper gegen CD22. Dieser detektiert Tumorzellen und ermöglicht eine zielgerichtetere Chemotherapie „Theoretisch sind davon nur die Tumorzellen betroffen. Insgesamt sind die Nebenwirkungen dadurch geringer ausgeprägt, was jedoch nicht auf alle Nebenwirkungen zutrifft“, erklärt Krämer. So treten unter IO venookklusive Lebererkrankungen deutlich häufiger auf als in der Vergleichsgruppe unter Chemotherapie: 11% vs 1%.
„Die Kombination von Calicheamicin mit einem Antikörper ist nicht neu“, sagt Krämer und erinnert an Gemtuzumab/Ozogamicin (GO). Die Kombination aus Calicheamicin und einem monoklonalen Antikörper gegen das CD33-Antigen wurde 2000 in den USA zur Therapie der akuten myeloischen Leukämie (AML) zugelassen. 2010 verschwand es aufgrund seiner Nebenwirkungen vom Markt.
Ein Zulassungsantrag für die EU scheiterte 2008: Die Wirksamkeit sei nicht ausreichend nachgewiesen worden und angesichts der teilweise schweren Nebenwirkungen sei auch das Risiko-Nutzen-Verhältnis ungünstig, urteilte seinerzeit die europäische Zulassungsbehörde. „Auch bei Behandlung mit diesem Medikament kam es häufig zu venookklusiven Lebererkrankungen“, berichtet Krämer dazu.
Die Autoren der INO-VATE ALL-Studie bringen die häufigeren VODs in einen Zusammenhang mit der Chemotherapie: „Das mag schon sein, nur führte GO zu ähnlichen Problemen, sodass man bezüglich der Beurteilung des Mechanismus, der zu venookklusiven Lebererkrankungen nach Behandlung mit Inotuzumab/Ozogamicin führt, zumindest vorsichtig sein und diesen besser untersuchen sollte“, sagt Krämer.
Das erhöhte Risiko für das Auftreten von venookklusiven Lebererkrankungen (VOD) unter Inotuzumab-Ozogamicin-Therapie erfordert auch im späteren Verlauf die Betreuung in entsprechend erfahrenden Zentren, betont Stelljes. VODs sind schwerwiegende Komplikationen, die – unabhängig von Inotuzumab/Ozogamicin – in den ersten 4 Wochen nach Stammzelltransplantation auftreten können. „Wenn man die Symptome kennt und die Risikofaktoren beachtet, dann lassen sich auch venookklusive Lebererkrankungen behandeln und gegebenenfalls auch verhindern. Trotz dieser Nebenwirkungen ist der Nutzen von IO eindeutig“, schließt Stelljes.
REFERENZEN:
1. Kantarjian HM, et al: NEJM Med 2016; 375:740-753
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Inotuzumab plus Ozogamicin bei akuter lymphatischer Leukämie: Remissionsrate verdreifacht, Überleben verlängert - Medscape - 21. Okt 2016.
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