„Wir kriegen sie nicht dünn“, aber gesünder – Pädiater fordern Paradigmenwechsel bei Adipositas-Therapien für Kinder

Petra Plaum

Interessenkonflikte

20. Oktober 2016

Hamburg – Kinder und Jugendliche starten mit immer mehr Übergewicht und gravierenderen Komorbiditäten, wenn sie eine Adipositastherapie beginnen, erfuhren die Besucher der Jahrestagung der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Hamburg [1]. Viele erhalten eine für sie falsche Therapie – oder die Behandlung endet zu früh. „Wir kriegen sie nicht dünn!“, lautet das Fazit von Dr. Ines Gellhaus, aus Paderborn und 1. Vorsitzende der Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche e. V. (KgAS)®.

Es sei unrealistisch, bei allen Kindern das Normalgewicht anzustreben – in einer Gesellschaft, in der jeder zweite Erwachsene zu viel wiegt, so Gellhaus im Symposium „Adipositas-Schulung für Kinder und Jugendliche – ein Update“. Sie forderte bei Adipositastherapien einen Paradigmenwechsel, weg vom Blick auf die Waage und den Body-Mass-Index (BMI), hin zur grundsätzlichen Akzeptanz von Übergewicht, das aber mit einem allgemein gesunden Lebensstil verbunden sein sollte. „Adipositas ist und bleibt eine chronische Krankheit“ – mit dieser Haltung, empfahl die Expertin, sollten Pädiater an die Behandlung herangehen.

Patienten kommen erst spät oder gehen wieder „verloren“

Gellhaus stellte die Geschichten zweier Mädchen vor: Patientin A begann mit 9 Jahren und einem BMI von 26,8 ihre Adipositastherapie. Im Kindesalter werden alters- und geschlechtsabhängige BMI-Referenzkurven verwendet, daher gilt bei einer 9-Jährigen ein BMI von 26,8 bereits als Adipositas. In der Therapie nahm die Patientin zwar weiterhin moderat zu, da sie aber auch weiter wuchs, sank ihr BMI bald in den Bereich des nicht krankhaften Übergewichts. Mit 17 Jahren hatte die Patientin einen BMI von 23,8 – für junge Frauen ein Wert im oberen Normbereich.

 
Adipositas ist und bleibt eine chronische Krankheit. Dr. Ines Gellhaus
 

Patientin B nahm als Kind planmäßig ab, doch nach Therapieende schlief der Kontakt zu den Therapeuten ein, berichtete Gellhaus. Als die Patientin sich als Teenager erneut in der Praxis vorstellte, war sie extrem adipös. Geschichten wie diese gibt es viel zu häufig, bedauerte die Ärztin: „Unser größtes Problem ist das Verlorengehen von Patienten.“

Es gebe zahlreiche Gründe, warum Patienten Therapien abbrechen bzw. das Gelernte nicht dauerhaft umsetzen: Mal bleibt eine Essstörung oder Depression unerkannt und unbehandelt. Mal ist die Familie des Patienten sehr belastet, mal die Schulsituation. Auch findet längst nicht jeder Patient in seiner Nähe Angebote und Therapeuten, die wirklich zu den eigenen Bedürfnissen passen. Last but not least: Kinder und Jugendliche mit Adipositas kommen immer später und immer kränker in die Therapiezentren, was den Weg zurück zum Normalgewicht erschwert.

Barbara Bohn vom Institut für Epidemiologie und medizinische Biometrie Ulm präsentierte Zahlen aus der Adipositas-Patienten-Verlaufsdokumentation-Datenbank APV. Zwischen 2005 und April 2016 wurden Daten von 67.540 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 20 Jahre erfasst, die an einem von 202 teilnehmenden Zentren eine Therapie gegen ihr Übergewicht machten. Das Durchschnittsalter bei Therapiebeginn lag bei 12,8 Jahren. Der Anteil der nicht krankhaft Übergewichtigen sank zwischen 2005 und 2016 von 33,9% auf 29,3%, der der Adipösen stieg von 50,3 auf 51,5%, der der extrem Adipösen von 11,5 auf 13,2%. Gleichzeitig nahmen die Komorbiditäten wie Hypertonie und Dyslipidämie zu.

„Entscheiden sich Eltern und Kinder erst zu einem späteren Zeitpunkt für eine Therapie? Probieren sie erst einmal, ob sie es zuhause schaffen? Oder ist die Finanzierung von Therapien schwieriger geworden?“ Diese Fragen stellte Bohn in den Raum.

Aufgaben für Pädiater: Case-Management – immer das Kindeswohl im Auge

Die Finanzierung guter, ausreichend langer Therapien für Heranwachsende mit Übergewicht ist in Deutschland ein Problem, verdeutlichte Gellhaus. Zumal Übergewicht meistens eine multifaktorielle Genese hat und Diagnose und Behandlung durch multidisziplinäre Teams am aussichtsreichsten sind. Mediziner, Pädagogen, Ernährungsberater, Physiotherapeuten, Psychologen – aus ihren Angeboten ist für jeden Patienten das passende Therapiekonzept zuzuschneiden. Auf jeden Fall gilt laut Gellhaus für jede Therapie: „Ich brauche einen langfristigen Behandlungsplan, idealerweise geführt vom Kinder- und Jugendarzt als Case-Manager.“

Ein Case-Manager weiß, dass ein früher Therapiebeginn besser ist als ein späterer und dass kurz- und langfristige Ziele festgelegt werden sollten. Er untersucht den jungen Patienten nicht nur gründlich körperlich, sondern hinterfragt auch die Situation in Familie, Freundeskreis, Kindergarten, Schule oder Ausbildung.

Gellhaus betonte, dass bei den Gesprächen mit den Eltern besonders viel Fingerspitzengefühl nötig ist.Den Ärzten empfahl sie offene Fragen wie: „Welche Sorgen machen Sie sich um das Gewicht und die Gesundheit Ihres Kindes? Wie wichtig wäre es, etwas daran zu ändern?“ und auch: „Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie als Familie das schaffen können?“ Im Idealfall, so Gellhaus, können Pädiater die Eltern mit ins Boot holen.

 
Ich brauche einen langfristigen Behandlungsplan, idealerweise geführt vom Kinder- und Jugendarzt als Case-Manager. Dr. Ines Gellhaus
 

„Die andere Seite der Skala ist, an Kindeswohlgefährdung zu denken“, gab Gellhaus zu bedenken. Auf eine Kindeswohlgefährdung kann hinweisen, wenn die Familie eines adipösen Patienten die Praxis oder Klinik gar nicht aktiv aufgesucht hat, wenn die Eltern Behandlungs- oder Interventionsmaßnahmen ablehnen oder wenn sie vorausgegangene Therapieempfehlungen nicht umgesetzt haben. Hier müssten Pädiater gezielt nachbohren, um mehr über die Situation im Elternhaus zu erfahren, legte Gellhaus nahe. Wonach Therapeuten dabei fragen können, vermitteln etwa die Beispiele des Programms Babeluga der Charité in Berlin.

Mit Geduld und gutem Netzwerk zu mehr Erfolg

Gellhaus legte Pädiatern zudem ans Herz, Behandlungs-Netzwerke aufzubauen. Wer vor Ort mit Ernährungsfachkräften, Sportvereinen und anderen Freizeit- und Ehrenamtsorganisationen, Erziehungsberatungsstellen sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zusammenarbeitet, kann für seine Patienten mehr bewegen. Wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch solle nicht die Kurzzeitbehandlung, sondern eine Behandlungskette anvisiert werden. Dazu gehören ambulante und stationäre Angebote für Eltern und Kinder über lange Zeiträume hinweg.

Gellhaus riet zudem dazu, nie zu vergessen: Nehmen adipöse Kinder trotz Therapie wenig bis gar nicht ab, muss die Behandlung noch lange kein Misserfolg sein. Gellhaus verwies auf Studienergebnisse der KgAS. Unter den 8- bis 16-Jährigen, die an ambulanten Programmen teilgenommen hatten, verbesserte sich die  Lebensqualität erheblich. Auch der familiäre Zusammenhalt und die Fitness der Kinder profitierten von den Interventionen. Komorbiditäten wie Dyslipidämie und Hypertonie gingen signifikant zurück. Die Ärzte und ihre Ko-Therapeuten hatten die jungen Patienten zwar nicht dünn bekommen, aber doch glücklicher und gesünder.

 

REFERENZEN:

1. 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), 14. bis 17. September 2016, Hamburg

 

Kommentar

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