Entwarnung für Finasterid? US-Forscher finden kein erhöhtes Risiko für Erektionsstörungen – etwas Skepsis bleibt

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

17. Oktober 2016

Anders als bisher angenommen scheinen die beiden 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren Finasterid und Dutasterid das Risiko einer erektilen Dysfunktion doch nicht zu erhöhen. Das legt eine Beobachtungsstudie mit mehr als 84.000 Männern nahe, die wegen einer gutartigen Vergrößerung der Prostata oder Haarausfall medikamentös behandelt worden sind.

Die Ergebnisse der Untersuchung, die von den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) finanziert wurde, stellen die Epidemiologin Katrina Wilcox Hagberg von der Boston University School of Public Health und ihre Kollegen im British Medical Journal vor [1]. Im Beipackzettel der beiden Medikamente sind Erektionsstörungen derzeit explizit als mögliche Nebenwirkungen aufgeführt.

In früheren Studien litten bis zu fünf Prozent der behandelten Männer an erektiler Dysfunktion

Prof. Dr. Christian Gratzke

„Eine Stärke dieser Studie ist es, dass die Daten prospektiv und longitudinal an einer sehr großen Zahl von Probanden erhoben wurden“, sagt Prof. Dr. Christian Gratzke, leitender Oberarzt der Urologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des dortigen Prostatazentrums, im Gespräch mit Medscape. „Man kann demnach davon ausgehen, dass das Ergebnis valide ist.“

Es sei allerdings gut möglich, dass nicht alle Teilnehmer, die eine erektile Dysfunktion entwickelt hätten, erfasst worden seien: „Gerade ältere Patienten werden ihrem Arzt vermutlich nicht von sich aus von sexuellen Problemen berichtet haben“, sagt Gratzke.

Für den Münchner Urologen kommt das Ergebnis der neuen Untersuchung durchaus überraschend. „Frühere randomisierte kontrollierte Studien hatten ergeben, dass bis zu fünf Prozent aller Anwender von 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren unter Erektionsstörungen leiden“, berichtet Gratzke und verweist dabei unter anderem auf eine im Jahr 2003 im New England Journal of Medicine erschienene Studie US-amerikanischer Forscher [2]. In dieser Untersuchung hatten 4,53% der Finasterid-Anwender über eine erektile Dysfunktion geklagt, während es in der Placebo-Gruppe nur 3,32% gewesen waren.

Erfasst wurden nur Patienten mit ärztlich gestellter Diagnose oder verordneter Therapie

Das Team um Wilcox Hagberg griff für seine aktuelle Studie auf Daten aus dem britischen Clinical Practice Research Datalink (CPRD) zurück. Die Forscher machten dort 71.849 Männer im Alter ab 40 Jahren mit einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) aus, denen zwischen den Jahren 1992 und 2011 entweder ein 5-alpha-Reduktase-Inhibitor, ein Alpha-Blocker oder eine Kombinationstherapie aus beiden Medikamenten verordnet worden war. An Alopezie litten 12.346 Männer zwischen 18 und 59 Jahren, von denen zwischen 2002 und 2011 allerdings nur 868 Probanden mit Finasterid (1 mg) behandelt wurden. Die anderen Teilnehmer dienten als Vergleichsgruppe.

Keiner der in die Untersuchung aufgenommenen Männer durfte an einer sexuellen Funktionsstörung oder einer Krebserkrankung des Urogenitaltrakts leiden oder eine Operation in diesem Körperbereich hinter sich haben. Die Häufigkeit erektiler Dysfunktionen während der im Durchschnitt 4-jährigen Beobachtungszeit machten Wilcox Hagberg und ihre Kollegen anhand der ärztlich gestellten Diagnosen und verordneten Behandlungen aus. Andere bekannte Risikofaktoren für Erektionsstörungen wie beispielsweise Übergewicht, Bluthochdruck oder Typ-2-Diabetes wurden bei der Analyse berücksichtigt.

Die benigne Prostatahyperplasie ist ein eigener Risikofaktor für Erektionsstörungen

 
Eine Stärke dieser Studie ist es, dass die Daten prospektiv und longitudinal an einer sehr großen Zahl von Probanden erhoben wurden. Prof. Dr. Christian Gratzke
 

Zusammenfassend kommen die Forscher zu dem Schluss, dass 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren das Risiko einer erektilen Dysfunktion nicht signifikant erhöhen – unabhängig davon, ob die Medikamente wegen einer BPH oder einer Alopezie eingenommen werden. In der BPH-Gruppe stellte das Team um Wilcox Hagberg fest, dass das Inzidenzratenverhältnis (Incidence Rate Ratio, kurz IRR) zwischen Patienten, die Finasterid oder Dutasterid eingenommen hatten, und jenen, denen die Ärzte einen Alpha-Blocker verordnet hatten, bei 0,92 lag. Das bedeutet, dass das Risiko einer Erektionsstörung unter der Therapie mit einen 5-alpha-Reduktase-Inhibitor sogar leicht geringer war. Bei der Kombinationstherapie lag die IRR im Vergleich zur Monotherapie mit Alpha-Blockern bei 1,09 – das Risiko war somit leicht erhöht.

Insgesamt waren bei den BPH-Patienten 5.814 Fälle von Erektionsstörungen aufgetreten – also immerhin bei 8,09% aller Teilnehmer. Allerdings stellten die Forscher fest, dass die Gefahr einer erektilen Dysfunktion mit zunehmender Dauer der BPH unabhängig von der Behandlungsart stieg. Die Wissenschaftler bestätigen somit die verbreitete Annahme, dass die gutartige Vergrößerung der Prostata ein eigener Risikofaktor für Erektionsstörungen ist.

In der Gruppe der Alopezie-Patienten lag die IRR zwischen den Probanden, die Finasterid einnahmen, und den unbehandelten Teilnehmern bei 1,03. Somit konnten die Forscher auch in dieser Kohorte kein erhöhtes Risiko für eine erektile Dysfunktion ausmachen.

Finasterid kann unter Umständen bleibende sexuelle Funktionsstörungen hervorrufen

Trotz dieser positiven Ergebnisse geht der Münchner Urologe Gratzke nicht davon aus, dass sich das Verschreibungsverhalten hierzulande durch die neue Studie dramatisch ändern wird. „In Deutschland sind Alpha-Blocker bei einer BPH nach wie vor das Medikament der Wahl“, sagt der Mediziner. Zwar könnten 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren anders als Alpha-Blocker die Prostata sogar zum Schrumpfen bringen, doch weder bei Ärzten noch bei Patienten hätten sie den gleichen hohen Stellenwert.

 
Frühere randomisierte kontrollierte Studien hatten ergeben, dass bis zu fünf Prozent aller Anwender von 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren unter Erektionsstörungen leiden. Prof. Dr. Christian Gratzke
 

Anders sehe es bei einer Alopezie aus, sagt Gratzke. Hier gebe es bei einer vom Patienten gewünschten systemischen Therapie kaum eine Alternative zu Finasterid.

Gratzke warnt zudem davor, dass manche Patienten selbst nach Absetzen dieses Medikaments dauerhaft unter einer erektilen Dysfunktion oder anderen sexuellen Funktionsstörungen litten. „Dass es dieses Post-Finasterid-Syndrom tatsächlich zu geben scheint und dass sich Mediziner ernsthaft damit beschäftigen, zeigt eine erst kürzlich veröffentlichte Studie der Harvard Medical School“, sagt Gratzke.

Die US-Forscher haben in ihrer Untersuchung herausgefunden, dass die im fMRT aufgezeigte Hirnaktivität der vom Post-Finasterid-Symptom betroffenen Patienten Ähnlichkeit mit entsprechenden Bildern schwer depressiver Menschen aufweist. „Die Annahme, dass ein geringes Risiko für solche bleibenden Schäden durch 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren besteht“, sagt Gratzke, „kann auch die Studie von Wilcox Hagberg und ihren Kollegen nicht entkräften.“

 

REFERENZEN:

1. Wilcox Hagberg K, et al: BMJ 2016;354:i4823

 

Kommentar

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