Als eine „oft übersehene Komplikation“ wurde beim Gerontologie- und Geriatriekongress das Refeeding-Syndrom vorgestellt [1]. Das Refeeding-Syndrom ist eine lebensbedrohliche Entgleisung, die (unter anderem) nach Beginn einer Ernährungstherapie bei mangelernährten Patienten auftreten kann. Die Symptome sind vielgestaltig und werden oftmals als Verschlechterung der Grunderkrankung verkannt.
Bei Kenntnis der Risikofaktoren kann man der Entstehung eines Refeeding-Syndroms aber wirksam vorbeugen. So lautete die Take-Home-Message beim Symposium, das vom Sprecher der AG Ernährung und Stoffwechsel der DGG, Prof. Dr. Rainer Wirth, Lehrstuhl für Geriatrie an der Ruhr-Universität Bochum und Leitung der Klinik für Altersmedizin und Frührehabilitation in der Universitätsklinik Marienhospital Herne, geleitet wurde.
„Das Refeeding–Syndrom wird hauptsächlich durch Elektrolytverschiebungen nach Wiederaufnahme der Zufuhr von Nährstoffen ausgelöst“, erklärte Dr. Rebecca Diekmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Geriatrie an der Universität Oldenburg. Die Bedeutung der Hypophosphatämie und ganz allgemein des Elektrolytmangels wird unter anderem in einer aktuellen Metaanalyse deutlich. Auch Thiamin spielt eine entscheidende Rolle.
Wer ist gefährdet?
Hilfreiche Hinweise zur Frage, wer ein Hochrisikopatient für diese Komplikation ist, gibt es vom britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE). Demnach ist jeder gefährdet, der mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt:
Body-Mass-Index (BMI) unter 16 kg/m²,
unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 15% des Körpergewichts innerhalb von 3 bis 6 Monaten,
keine oder nur geringe Nahrungszufuhr für mehr als 10 Tage,
Hypophosphatämie, Hypokaliämie oder Hypomagnesiämie vor Beginn der Ernährungstherapie.
Darüber hinaus besteht auch für Patienten mit weniger gravierenden Risikofaktoren eine Gefahr, sobald sie mindestens 2 dieser Kriterien aufweisen:
einen BMI unter 18,5 kg/m²,
unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 10% in 3 bis 6 Monaten,
keine oder geringe Nahrungsaufnahme für mehr als 5 Tage sowie
Alkohol- oder Drogenabusus, Therapie mit Insulin, Antazida, Diuretika oder Chemotherapeutika.
Als Hochrisikopatienten gelten beide Gruppen gleichermaßen.
Potentiell gefährdet sind neben mangelernährten/kachektischen geriatrischen Patienten „alle Personen mit längerem Energie- und Glukosedefizit“, so Diekmann. Die anschließende Nahrungszufuhr kann das Syndrom innerhalb weniger Tage auslösen; dabei spielt es keine Rolle, ob sie oral, enteral oder parenteral erfolgt.
So scheint der Beginn einer PEG-Sondenernährung bei geriatrischen Patienten eine häufig übersehene und unterschätzte Gefahrensituation für das Refeeding-Syndrom zu sein. Zudem kann das Syndrom auch auftreten bei Personen mit Anorexia nervosa, bei Chirurgie-, Intensiv- und Krebspatienten und sogar bei älteren Menschen, die nach einem Sturz über mehrere Tage keine Nahrung erhalten konnten. Wenig bekannt ist, dass auch Adipositas-Patienten nach massiver Gewichtsabnahme, etwa nach bariatrischer Chirurgie, manchmal anschließend ein Refeeding-Syndrom erleiden.
In eine von der AG Ernährung und Stoffwechsel initiierten, derzeit noch unveröffentlichten Studie brachten 6 geriatrische Stationen bislang insgesamt 344 konsekutive Patienten ein. Diekmann stellte erste Zwischenergebnisse vor. Demnach erfüllten 20% der Patienten die Kriterien der besonders vulnerablen ersten Kategorie und 45% passten zur zweiten Kategorie. Die Ernährungsexpertin wertete das als „eine doch sehr hohe Prävalenz und hohe Gefahr für ein Refeeding-Syndrom“.
Symptome sind vielfältig, unspezifisch und potenziell lebensbedrohlich
Die Symptome des Refeeding-Syndroms hängen vom Ausmaß des Elektrolyt- und Thiaminmangels ab und können stark variieren. Die schwereren unter ihnen reichen von peripheren Ödemen über Herz- und Lungeninsuffizienz und Lungenödem bis hin zu Niereninsuffizienz, Hämolyse/Anämie, Krämpfen und Koma.
„Die klinisch relevanten Symptome sind Tachykardie, Tachypnoe und Ödeme“, fasste die Internistin Dr. Ilse Gehrke, Chefärztin der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Altersmedizin am Klinikum Schwarzwald-Baar, Donaueschingen zusammen. Wie viele Patienten letztlich an den Folgen des Refeeding-Syndroms sterben, dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen.
Was tun zur Prävention und Notfalltherapie?
Bei aufmerksamer Beobachtung der Patienten und Einhaltung einiger Vorsichtsmaßnahmen ist das Syndrom vermeidbar. So sollte die Ernährungstherapie bei Hochrisikopatienten nicht mit der Energiemenge gestartet werden, die dem allgemeinen Bedarf entspricht (bei älteren kranken Personen wären das etwa 27 bis 30 kcal/kg Körpergewicht und Tag), sondern es sollte anfangs deutlich weniger Energie zugeführt werden.
In den ersten beiden Tagen sollte es maximal die Hälfte des eigentlichen Bedarfs sein, erklärte Dr. Mirja Katrin Modreker, Leiterin der Inneren Klinik III / Zentrum für Altersmedizin am Hanse-Klinikum Wismar. In der Regel sollte mit 10 kcal/kg/d begonnen werden, in Extremsituationen gar nur mit 5 kcal/kg/d. Zur Verdeutlichung: Für eine Person mit 50 kg Körpergewicht wären das nur 500 oder sogar nur 250 kcal. Erst ganz allmählich könne dann die Energiezufuhr bis hin zum Zielwert (dem normalen Bedarf) gesteigert werden, so die Expertin.
Dabei müssen Vitamine, Mineralien und Spurenelemente supplementiert und engmaschig überwacht werden: Serumelektrolyte, Nieren- und Vitalparameter sollten zumindest einmal täglich gemessen werden. Bei erhöhtem Herz-Kreislauf-Risiko (also fast immer) muss auch ein kardiales Monitoring erfolgen. Wichtig ist selbstverständlich auch die Kontrolle des Flüssigkeitshaushalts.
Als Alarmschwellen der Elektrolyte nannte Modreker Serumwerte von unter 0,6 mmol/l für Phosphat, unter 0,5 mmol/l für Magnesium und unter 3,5 mmol/l für Kalium. Auch der Natrium- und Kalziumspiegel müssen beobachtet werden. In den ersten 10 Tagen ist eine intravenöse Therapie mit morgens und abends je 100 mg Thiamin indiziert.
Entwickelt ein Patient trotzdem Symptome, die auf ein Refeeding-Syndrom hinweisen, so sollte die Energiezufuhr sofort wieder gedrosselt und die Elektrolyt- und Nierenwerte mehrmals täglich kontrolliert werden. Elektrolytentgleisungen sind intravenös auszugleichen. Erst danach, so Modreker, könne man erneut versuchen, die zugeführte Energiemenge langsam wieder zu steigern.
REFERENZEN:
1. Gerontologie und Geriatrie Kongress 2016, 7. bis 10. September 2016, Stuttgart
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Refeeding-Syndrom nach Mangelernährung: Lebensbedrohlich und oft nicht erkannt - Medscape - 14. Okt 2016.
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