Lebensbedrohliche Diagnosen können Menschen ins soziale Abseits treiben, wie jetzt eine britische Studie mit Schlaganfallpatienten belegt. Dr. Sarah Northcott und Kollegen von der City University London haben herausgefunden, dass sich ein Schlaganfall negativ auf das soziale Netzwerk der Patienten auswirkt [1]. Der Kontakt zu Kindern und anderen Verwandten blieb zwar weitgehend stabil. Allerdings berichteten viele Studienteilnehmer, dass sich der Freundeskreis signifikant verkleinert habe. Vor dem Schlaganfall sagten 14%, dass sie einen oder keinen Freund hätten; 6 Monate nach einem Schlaganfall stieg diese Zahl auf 36%, wobei 20% anmerkten, gar keinen engen mehr Freund zu haben.
Viele gaben an, mit ihren sozialen Beziehungen nach dem Schlaganfall weniger zufrieden zu sein. Das soziale Netzwerk von 63% der Befragten war negativ betroffen. Besonders beeinträchtigend ist die Aphasie: Reden, Verstehen, Schreiben oder Lesen funktionieren nur eingeschränkt. Jüngste Forschungen zeigten, „dass dies die Fähigkeit der Patienten, zufriedenstellende soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten, erschweren kann", so die Londoner Forscher.
Gerade bei schweren, lebensbedrohenden Erkrankungen droht die soziale Isolation
Wo die Aphasie Schlaganfallpatienten aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen drängt, ist es bei Krebspatienten oft das Fatique-Syndrom, die chronische Erschöpfung. „Wenn die Krebserkrankung nicht mehr die akute existenzielle Bedrohung darstellt, treten andere Probleme auf", sagt Marie Rösler von der Krebsgesellschaft Bremen gegenüber Medscape. Besonders junge Menschen, die eine Krebserkrankung überleben, leiden dann unter Jobverlust, dem Abgleiten in prekäre soziale Situationen, körperlicher Schwäche und zugleich der Erwartung ihrer Umwelt, nun ganz normal weitermachen zu können.
Vor allem die finanzielle Situation könne düster aussehen, erläutert Rösler. „Das überschattet die Genesung erheblich.“ Mitunter sei der finanzielle Absturz bedrückender als die Erkrankung selber, so Rösler weiter. Tatsächlich habe erst die immer besser werdende Medizin zu längeren Überlebenszeiten mit derartigen Konsequenzen geführt, sagt auch Jürgen Walther, Leiter des Sozialdienstes im Heidelberger Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen (NCT). „In der gewonnenen Lebenszeit treten dann eben auch zahlreiche andere Beschwerden auf."
Soziale Kontakte sind gesund, ihr Fehlen macht krank
Schwere Krankheit führt also oft in die Isolation. Und auch umgekehrt gilt: Soziale Isolation kann krank machen. Die britische Psychologin Prof. Dr. Julianne Holt-Lunstad von der Brigham Young University wies in einer Studie nach, dass Menschen mit vielen sozialen Beziehungen, ein um 50% geringeres relatives Risiko aufweisen, an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu sterben als Menschen, die über wenige soziale Kontakte verfügen. Holt-Lunstad hatte dazu die Daten von mehr 300.000 Probanden über einen Zeitraum von 7,5 Jahren analysiert. Die Größe des positiven Effekts sozialer Kontakte sei vergleichbar mit den positiven Folgen des Entschlusses, das Rauchen aufzugeben, hieß es. Kurz: Soziale Kontakte sind gesund, ihr Fehlen macht krank.
Holt-Lunstad hat in ihrer Studie über das Erkrankungsrisiko aufgrund sozialer Isolation die in Frage kommenden schweren Krankheiten ihrer Probanden nicht näher differenziert. Da es sich bei Schlaganfall und Krebs ohne Zweifel um schwere Krankheiten handelt, dürften ihre Ergebnisse auch für Krebs- und Schlaganfallpatienten gelten. Der direkte Nachweis, dass soziale Probleme oder soziale Isolation den Krankheitsverlauf beeinflussen, stehe noch aus, sagt Jürgen Walther, „obwohl der Zusammenhang natürlich nahe liegt."
Das soziale Abseits muss dabei nicht nur von einer eigenen Krankheit herrühren, um zu schaden. „Der britische Epidemiologe Collin Murray Parkes hat bereits Ende der 60er Jahre in fast 10-jährigen Studien ermittelt, dass Männer ein um 40% höheres Sterberisiko haben, wenn sie im vorangegangenen halben Jahr ihre Ehefrau verloren hatten“, berichtet Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig vom Institut für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum in München.
In der plötzlichen sozialen Isolation schienen viele der zurückgebliebenen Ehepartner nicht mehr leben zu wollen und starben bald an „gebrochenem Herzen", so die Interpretation der Ergebnisse. Murray Parkes Forschung gehört zu den Urgeschichten der Epidemiologie seelischer Gesundheit, sagt Ladwig.
Tatsächlich können Menschen zum Beispiel an der so genannten Stress-Kardiomyopathie sterben. Dr. Elisabeth Mostofsky, Epidemiologin an der Harvard School of Public Health in Boston, ermittelte in einer Studie: Bei Menschen, die einen Lebenspartner verlieren, ist das Risiko einer Herzattacke in den ersten 24 Stunden nach dem Verlust um das 21-fache erhöht. Und nach einer Woche immer noch um das 7-fache.
Was tun?
Die Hilfe ist zum Teil erstaunlich simpel. Dr. Northcott sagt: „Wir wissen, dass die Unterstützung der Umgebung wichtig ist, damit eine Person lernt, sich mit dem Leben nach dem Schlaganfall zu arrangieren." Zudem werden die Forderungen nach Rahmenbedingungen lauter, die ein Abrutschen in die Isolation verhindern. „Möglich wäre zum Beispiel ein Teil-Krankengeld und mehr Teilzeitarbeitsplätze", meint Marie Rösler von der Krebsgesellschaft. So können die Patienten wieder Stück für Stück in den Arbeitsprozess einsteigen, und die sozialen Kontakte brechen nicht weg.
Ladwig sieht auch den Arzt in der Verantwortung. „Man muss im ärztlichen Gespräch den sozialen Beziehungen der Patienten mehr Raum geben", sagt Ladwig. Der Arzt müsse wissen, ob er einen gut oder einen schlecht eingebundenen Patienten vor sich habe. „Es gibt bei uns so viele Möglichkeiten der Unterstützung – Volkshochschulen, Kirchengemeinden und so weiter. Ärzte sollten sich nicht zu schade sein, auch die sozialen Aspekte mit in die Patientenversorgung hineinzunehmen."
REFERENZEN:
1. Northcott S, et al: Journal of Speech Language and Hearing Research 2016; 59:772-783
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Nach schwerer Krankheit drohen oft sozialer und finanzieller Absturz – sollte soziale Integration Teil der Therapie werden? - Medscape - 7. Okt 2016.
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