München – Aktuelle Studiendaten zeigen, dass das erstmalige Auftreten eines Diabetes mellitus vom Typ 1 jenseits des 30. Lebensjahres genauso wahrscheinlich ist wie davor. Entsprechende Ergebnisse präsentierte Dr. Nicholas JM Thomas, Institut für Biomedizinische und Klinische Forschung an der Universität von Exeter in Großbritannien, auf dem Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) [1].
Nach Auswertung von Daten aus der UK Biobank widerlegt das verblüffende Resultat den lange gehegten Glauben, dass der Typ-1-Diabetes vornehmlich im Kindes- und Jugendalter beginnt. Klinisch sind die Zahlen vor allem im ambulanten Bereich bedeutsam, wo Personen, die einen autoimmun-vermittelten Diabetes entwickeln, häufig aufgrund ihres Alters als Typ-2-Diabetiker fehldiagnostiziert werden und Metformin statt Insulin erhalten.
Typ-1-Diabetes im Alter: Fehldiagnose „Typ-2“
„Ich denke, dass diese Resultate ein Weckruf sind und Auswirkungen darauf haben werden, wie wir die Betroffenen diagnostizieren und therapieren und auch welche Beratung wir ihnen zuteilwerden lassen. Wir richten unseren Blick zu sehr auf die Kindheit und die Jugend, und wenn jemand später die Diagnose erhält, wird er vielleicht anders beraten“, sagte Thomas gegenüber Medscape Medical News in einem Interview.
Die richtige Diagnose ist in der allgemeinärztlichen Versorgung heute immer noch schwierig. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die überwiegende Zahl an älteren Erwachsenen mit einem neuen Diabetes leidet tatsächlich unter einem Typ-2-Diabetes. Zudem ist die Antikörper-Bestimmung zur Aufdeckung eines immunvermittelten Diabetes in der klinischen Routine zu kostspielig. Und schließlich ist Übergewicht oder Adipositas fast immer mit einem Typ 2 vergesellschaftet, doch beim Typ-1-Diabetes auch nicht selten.
„Es gleicht eher der Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagt Thomas und empfahl den Ärzten, sich stets daran zu erinnern, dass auch Erwachsene einen Autoimmun-Diabetes entwickeln können, der entweder als klassischer Typ 1 in Erscheinung tritt oder aber als latenter Autoimmundiabetes des Erwachsenen (LADA).
Vorsicht bei untypischen Typ-2-Diabetikern
„Es geht darum, es zu wissen und im Hinterkopf zu behalten, wenn man auf jemanden stößt, der nicht dem typischen Bild eines Typ-2-Diabetikers entspricht oder nicht so auf die Behandlung anspricht, wie man es erwartet, wenn man sich an den üblichen Behandlungsplan eines Typ-2-Diabetikers hält.“ Er führte als Beispiel den Fall der britischen Premierministerin Theresa May an, bei der im Alter von 56 Jahren ein Diabetes Typ 1 diagnostiziert wurde.
Medscape bat die Co-Moderatorin der Tagung, Prof. Dr. Catharine Owen vom Oxford Zentrum für Diabetes, Endokrinologie und Metabolismus in Großbritannien, um einen Kommentar.
„Ich halte es für ganz entscheidend, in jedem Lebensalter des Patienten an die Möglichkeit eines Typ-1-Diabetes zu denken. Ärzte sollten nicht mit den Schultern zucken, wenn ein Patient nicht auf die oralen Antidiabetika anspricht oder wenn der HbA1c-Zielwert nicht erreicht wird.“
Woher stammt die Bezeichnung „juveniler“ Diabetes?
Vor knapp 20 Jahren wurden die Begriffe „juveniler Diabetes“ und „Altersdiabetes“ zugunsten der Bezeichnungen Diabetes Typ 1 bzw. Typ 2 offiziell aufgegeben, doch werden die Bezeichnungen außerhalb der Medizin und unter Laien häufig immer noch unter der Vorstellung weitergeführt, dass ein immunvermittelter Diabetes in Erwachsenenalter selten oder ungewöhnlich sei.
Tatsächlich wurden die meisten Studien zum Typ-1-Diabetes an Kindern und Jugendlichen durchgeführt, sodass nur sehr wenige Daten über einen Diabetes Typ 1 im Erwachsenenalter vorliegen.
Das Problem ist laut Thomas, „dass im Kindesalter die allermeisten Diabetesfälle dem Typ 1 zuzuordnen sind, sodass sie leichter zu diagnostizieren sind, weil sie herausstechen. Im späteren Lebensalter kommt es dann zu einer dramatischen Zunahme an Typ-2-Fällen, wodurch die Typ-1-Fälle in den Hintergrund treten und auch schwerer zu erkennen sind“.
Das Vorhandensein spezifischer Autoantikörper kann ein Hinweis sein, doch werden diese bei Erwachsenen nicht routinemäßig bestimmt, und wenn doch einmal, sind die Werte weniger charakteristisch als bei Kindern, was zu häufigeren falsch negativen Ergebnissen führt.
Neuer genetischer Ansatz
Um für diese Probleme eine Lösung anzubieten, empfehlen Thomas und seine Mitarbeiter einen „stabilen, neuen genetischen Ansatz“ über einen Risiko-Score, der aus 30 Einzelnukleotid-Polymorphismen besteht, die mit dem Typ-1-Diabetes in Zusammenhang gebracht werden (T1D-GRS).
Sie konnten zeigen, dass der Typ-1-Diabetes vorwiegend auf Patienten beschränkt ist, die einen hohen T1D-GRS aufweisen (die oberen 50%). Sie glichen die genetischen Risikofaktoren für den Typ-1-Diabetes mit einer Kohorte von 120.000 erwachsenen, weißen Briten zwischen 40 und 70 Jahren aus der UK Biobank ab. Diese medizinische Datenbank dient der statistischen Erforschung zahlreicher Erkrankungen. Sie umfasst u.a. Menschen mit und ohne Diabetes und verfügt über Daten zum Alter bei der Erstdiagnose, Angaben über eine Insulinpflicht im Diagnosejahr, die gegenwärtige Medikation und den BMI.
Wie erwartet ergab eine Selektion nach dem Alter, dass praktisch alle diagnostizierten Diabetesfälle unter 30 den autoimmunvermittelten Typ 1 aufwiesen und mit steigendem Alter die Prävalenz von Typ 2 dramatisch anstieg. Allerdings stellten sie auch fest, dass die Zahl der Typ-1-Fälle zwischen 30 und 60 Jahren konstant blieb, sodass etwa die Hälfte aller Typ-1-Fälle erst nach dem 30. Lebensjahr auftrat, jedoch von der gewaltigen Zahl der Typ-2-Fälle förmlich überschwemmt wurde, erklärte Thomas.
Der Typ-1-Diabetiker jenseits der 30 – etwas schlanker, etwas jünger
Insgesamt standen 53% (242/457) der Typ-1-Diabetesfälle, die vor dem 30. Lebensjahr diagnostiziert worden waren, für 74% (242/326) aller Diabetesfälle in diesem Alterssegment, während die anderen 47% (215/457), die bei Diagnose zwischen 31 und 60 Jahre alt gewesen waren, gerade einmal 5% (215/4335) aller Diabetesfälle jenes Segments ausmachten.
Bei einem Vergleich der zwischen 31 und 60 Jahren diagnostizierten Typ-1- und Typ-2-Fälle waren die Typ-1-Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose im Durchschnitt deutlich jünger (44 bzw. 52, P < 0,0001) bei niedrigerem BMI (26,2 bzw. 32,6 kg/m2, p < 0,0001), hatten eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres nach der Diagnose insulinpflichtig zu werden (79% bzw. 6%, p < 0,0001) und es auch zu bleiben (100% bzw.16%, p < 0,0001). „So hatten wir uns also wirklich vergewissert, Typ-1-Diabetiker erfasst zu haben“, kommentierte Thomas.
T1D-GRS ist somit ein neues Instrument zur Differenzierung der diabetischen Ätiologie in großen Kohorten, ohne dass dazu eine Antikörperanalyse erforderlich wäre, betonte er.
Er wiederholte noch einmal, dass das Auftreten des Typ-1-Diabetes in den ersten 6 Lebensdekaden gleichmäßig verteilt ist, dass jedoch nach dem 30. Lebensjahr die Zunahme der Typ-2-Fälle eine korrekte Diagnose mit entsprechender Behandlung oft erschwere. Owen fügte noch hinzu, dass in Großbritannien sogar Personen, bei denen in der Kindheit oder Jugend ein Typ-1-Diabetes festgestellt worden war, im Erwachsenenalter nicht selten in den Akten als Typ-2-Diabetiker geführt würden.
„Es handelt sich um ein absolut grundlegendes Missverständnis, an dem wir noch eine Weile arbeiten müssen. Die neue Studie macht das Problem recht deutlich, wenngleich sie nicht direkt bei der Identifikation der Patienten hilft.“
Dieser Artikel wurde von Martin Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. European Association for the Study of Diabetes (EASD) Congress, 12. bis 16. September 2016, München
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Von wegen „juvenil“: Jeder zweite Typ-1-Diabetes tritt nach dem 30. Lebensjahr auf – und wird leicht als Typ 2 verkannt - Medscape - 6. Okt 2016.
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