Die wichtigsten Studien der letzten 12 Monate in der Neurologie: Durchbruch bei Alzheimer? Studienflut bei MS

Michael Simm

Interessenkonflikte

5. Oktober 2016

Mannheim – Etwa 100 der wichtigsten Studien der letzten 12 Monate auf dem Fachgebiet der Neurologie hat Prof. Dr. Hans-Christoph Diener vorgestellt: Er präsentierte bei seinem Vortrag auf dem 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie exakt 276 Dias in 90 Minuten –  und wurde dafür von den Delegierten mit anhaltendem Beifall bedacht [1]. Dieners Vortrag umfasste vor allem klinisch relevante Untersuchungen zu den Krankheitsbildern Schlaganfall, Epilepsie, Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer, Amyotrophe Lateralsklerose, Kopfschmerz und Migräne. Diener hat 27 Jahre lang die Neurologische Universitätsklinik in Essen geleitet und mittlerweile eine Seniorprofessur für Klinische Neurowissenschaften übernommen.

Aducanumab: Durchbruch gegen Alzheimer?

An erster Stelle nannte Diener eine Studie, über die Medscape kürzlich berichtet hat, bei der 165 Patienten mit prodromaler oder beginnender Alzheimer-Demenz (Mini-Mental State Examination, MMSE: durchschnittlich 24) entweder Placebo oder ansteigende Dosen des Antikörpers Aducanumab erhalten hatten. Wie Forscher um Jeff Sevigny vom US-amerikanischen Biotechnologie-Unternehmen Biogen in Nature berichteten, reduzierte dies nicht nur die Last von Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn der Probanden. Unter hohen Dosen stabilisierten sich auch die kognitiven Funktionen, während sie unter Placebo sanken. „Wenn sich das bestätigt, dann ist das der Durchbruch gegen Alzheimer“, urteilte Diener. Dass dem so ist, sollen 2 Studien der Phase 3 beweisen, die mit insgesamt 2.700 Patienten bereits angelaufen sind.

Als besonders praxisrelevant stufte Diener auch eine Studie von Prof. Dr. Robert Howard, University College London, und dessen Kollegen ein, in der bei 295 Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz nach der Wahrscheinlichkeit für die Einweisung in ein Pflegeheim gefragt wurde. Es gab 4 Therapiearme: Entweder wurde Donepezil kontinuierlich gegeben oder abgesetzt – und zusätzlich wurde entweder Placebo oder Memantin gegeben. Hier erwies sich das Absetzen von Donepezil über einen Zeitraum von etwa 40 Monaten als nachteilig; die Zugabe von Memantin hatte keinen Effekt.

Prof. Dr. Hans-Christoph Diener

DGN/privat

ALS: Intervention aus Verzweiflung

Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) verwies Diener auf eine Studie zum Nutzen der Zwerchfellstimulation, die man wohl auch wegen der „ganz lausigen“ Überlebenszeit von nur 3,5 Jahren bei diesen Patienten erprobt hat. Allerdings zeigte sich bei den 74 Teilnehmern der DiPALS-Studie (Diaphragm Pacing in patients with respiratory insufficiency due to Amyothrophic Lateral Sclerosis), dass die Intervention hochsignifikant schädlicher war als eine Beatmung ohne Zwerchfellstimulation: Die mediane Überlebenszeit betrug nur 11 Monate gegenüber 22,5 Monaten ohne den Stimulator.

Noch dazu litten die Patienten in der Interventionsgruppe fast doppelt so häufig unter Schmerzen (27% vs. 16%), und sie bekamen häufiger Infektionen des Brustraumes (32% vs. 19%). „Eine schlechte Prognose und das Fehlen einer kurativen Behandlung ermutigen Patienten und einige Kliniker verständlicherweise zu einer `Nichts-zu-verlieren-Haltung´ mit abgesenkten Standards zur Erprobung neuer Interventionen“, bemerkten dazu die Studienautoren. „Unsere Ergebnisse zeigen den möglichen Schaden, den solch eine Haltung verursachen kann.“

Als einzig gute Nachricht aus der ALS-Forschung präsentierte Diener eine randomisierte Studie zu Mexiletin. Das Präparat konnte zwar die Progression des Leidens nicht beeinflussen, linderte aber die Häufigkeit von Muskelkrämpfen und – in der hohen Dosis von 900 mg – auch die dadurch verursachten Schmerzen. „Die Nebenwirkungen machen die Handhabung allerdings kompliziert“, sagte Diener und empfahl: „Reden Sie mit Ihrem Kardiologen.“

Epilepsie: Nasal zu verabreichende Formulierung

 
Wenn sich das bestätigt, dann ist das der Durchbruch gegen Alzheimer. Prof. Dr. Hans-Christoph Diener
 

In der Akuttherapie epileptischer Anfälle gibt es eine erfreuliche Neuerung in Gestalt einer nasal zu verabreichenden Formulierung von Midazolam. Die wurde zwar bisher nur an gesunden Freiwilligen erprobt, verspricht jedoch eine einfachere Applikation ohne Atemprobleme, und sie ist gut haltbar.

Verwundert zeigte sich Diener über eine „lausige“ Studie, die in Lancet Neurology veröffentlicht wurde: Die Studie hat Cannabidiol bei Patienten mit therapierefraktärer Epilepsie eine Wirksamkeit bescheinigt.

Zum neu auftretenden (new onset) refraktorischen Status epilepticus hat Nicolas Gaspard von der Yale University School of Medicine mit seinen Kollegen eine Übersicht publiziert: Danach betrug die Mortalität bei 130 Patienten 22%. Der Ursprung des Status epilepticus blieb bei mehr als der Hälfte ungeklärt, bei 40% war es eine Autoimmun-Enzephalitis. „Daran sollten Sie denken, wenn Sie solch einen Fall in der Praxis haben”, riet Diener seinen Kollegen.

Neues zu Multipler Sklerose

Eine wahre Flut von Studien zur Multiplen Sklerose (MS) fasste Diener in 6 Punkten zusammen:

1. Die Antikörper Daclizumab und Ocrelizumab könnten die nächste Therapie bei der relapsierend-remittierenden Form der Krankheit sein.
2. Patienten, die bereits Natalizumab erhalten haben, profitieren von Fingolimod mehr als von Glatarimeracetat.
3. Bei der chronisch-progredienten MS ist Fingolimod nicht wirksam.
4. Siponimod ist wirksam bei sekundär-progredienter MS, wie der Hersteller Novartis mit Bezug auf eine Phase-3-Studie in einer Pressemitteilung vorab bekannt gegeben hat.
5. Östrogen ist bei weiblichen MS-Patienten nicht wirksam.
6. Ein hoher Vitamin-D-Spiegel korreliert mit einer besseren Prognose.

Etwa 170 Reiserückkehrer mit Zika

Unter den Infektionskrankheiten machte zuletzt vor allem das Zika-Virus Schlagzeilen, erinnerte Diener. Bis zu 1,3 Millionen Verdachtsfälle berichtete das brasilianische Gesundheitsministerium für 2015. Befürchtungen, die Besucherströme während der Olympiade könnten zu einer Pandemie führen, haben sich aber nicht bestätigt.

Laut dem Robert Koch-Institut sind seit Oktober 2015 etwa 170 Reiserückkehrer nach Deutschland mit dem Zika-Virus diagnostiziert worden, darunter eine sexuell übertragene Infektion. Seine Kollegen beruhigte Diener mit dem Hinweis, dass 80% der Infektionen asymptomatisch bleiben. Eine Ausnahme stellen allerdings Infektionen in der Schwangerschaft dar, wodurch die Gefahr einer Mikrozephalie für das Kind droht.

 

REFERENZEN:

1. 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 21. bis 24. September 2016, Mannheim

 

Kommentar

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