Die Zahl der Schilddrüsenkrebs-Fälle nimmt weltweit drastisch zu – Epidemie oder Überdiagnose?

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

4. Oktober 2016

In den vergangenen 20 Jahren wurden in Südkorea, den USA, Italien und anderen Ländern immer mehr Schilddrüsenkarzinome entdeckt. Doch anstatt einer weltweiten Epidemie stellen Krebsexperten in bis zu 90% der Fälle Überdiagnosen nicht behandlungsbedürftiger Knoten durch neue Diagnosetechniken wie Ultraschalluntersuchungen fest. In einem im New England Journal of Medicine veröffentlichten Report sprechen italienische und französische Krebsforscher unter der Leitung von Dr. Salvatore Vaccarella, International Agency for Research on Cancer, Lyon, Frankreich, von „markanten Anstiegen“ der Krebszahlen, etwa in Südkorea, wo es organisierte Screening-Programme gibt [1].

Prof. Dr. Markus Luster

„Auch wenn es in Deutschland keine flächendeckenden Screenings gibt, stellt sich die Situation hier seit der Einführung der Ultraschalluntersuchungen vor einigen Jahrzehnten ähnlich dar“, sagt Prof. Dr. Markus Luster, Direktor der Nuklearmedizin am Uniklinikum Marburg, gegenüber Medscape. Allerdings müsse man die im Vergleich zu anderen Ländern, etwa den USA oder Japan, „in Deutschland schlechtere Jodversorgung“ berücksichtigen. „Dadurch ist die Inzidenz von Knoten hierzulande vergleichsweise höher“, sagt Luster. 

Bis zu 90 Prozent der Untersuchungen vermeidbar

Als „Überdiagnose“ bezeichnen die Autoren des Reports „Schilddrüsentumore, die, wenn man sie in Ruhe lässt, weder Beschwerden verursachen noch tödlich enden“. Anhand von Daten aus Krebsregistern aus den vergangenen Jahrzehnten haben sie das Auftreten von Schilddrüsenkrebs in verschiedenen Altersstufen vor und nach der Einführung von Ultraschalluntersuchungen untersucht. Während die Zahl von Schilddrüsentumoren vor der Einführung der Ultraschalluntersuchungen in den späten 1970er Jahren erst im Alter anstieg, nahm die Inzidenz seit den 1980er Jahren bei Frauen mittleren Alters stark zu, bemerken sie.

Am stärksten ist die Fallzahl in Südkorea gestiegen. Dort traten von 1993 bis 1997 12,2 Fälle pro 100.000 Personen auf; von 2003 bis 2007 waren es 59,9 Fälle. Obwohl die Schilddrüsenkrebs-Diagnosen in astronomische Höhen schnellten, sei die Zahl der Todesfälle durch Schilddrüsentumore gleich geblieben, bemerken die Autoren. Bei den Todesfällen handle es sich fast ausschließlich um anaplastische sowie schlecht differenzierte Karzinome, sagt Luster. „Überdiagnosen führen in den seltensten Fällen zum Tod.“

 
Überdiagnosen führen in den seltensten Fällen zum Tod. Prof. Dr. Markus Luster
 

Seit 1999 existieren in Südkorea freiwillige Screening-Programme mit Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse, an denen rund 13% der Erwachsenen teilnehmen. Im Alter von 50 bis 59 Jahre sind es 26%. In 90% der Fälle könne man von Überdiagnosen, also überflüssigen Untersuchungen sprechen, sagen die Autoren. Das heißt, gefunden werden kleine papilläre Läsionen, die meist asymptomatisch und nicht tödlich verliefen.

Auch in den anderen untersuchten Ländern – USA, Italien, Frankreich, Japan, Australien, England, Schottland und den Skandinavischen Ländern – stellten sie zwischen 1988 und 2007 Hunderttausende dieser Überdiagnosen fest, mit immer höheren Inzidenzen, aber gleichbleibenden oder sogar schrumpfenden Mortalitätsraten.

Insgesamt schätzen Vaccarella und seine Kollegen, dass in den 12 untersuchten Ländern in den vergangenen 20 Jahren bei 470.000 Frauen und 90.000 Männer ein Schilddrüsentumor „überdiagnostiziert“ wurde. Die Zahlen seien ständig gestiegen, „mit wenig Evidenz zur Stabilisierung“, schreiben die Autoren. „Es gibt keine Beweise für einen neuen Risikofaktor oder einer gestiegenen Belastung durch bekannte Risikofaktoren, die diesen Aufwärtstrend erklären könnten“, bemerken sie. Vielmehr drängen sich „Veränderungen in der Gesundheitsversorgung, ärztliche Vorgehensweisen und das Ausmaß an beabsichtigter Untersuchung der Schilddrüse sowie zufällige Befunde als wahrscheinliche Erklärungen unserer Erkenntnisse“ auf, so ihre Schlussfolgerung.

Die hohe Zahl der gefundenen Veränderungen demonstriere, dass die Schilddrüse durch Ultraschalluntersuchungen „extrem gut zu erfassen ist. Durch Screenings aktiv nach Tumoren zu suchen ist aber abzulehnen“, sagt Nuklearmediziner Luster. Erst dann, wenn Beschwerden auftreten oder bei Über-, bzw. Unterfunktionen solle mit der Diagnostik begonnen werden.

Auch in Deutschland wird großzügig diagnostiziert

Prof. Dr. Dagmar Führer

Das Ergebnis des Reports „verdeutlicht ein generelles Problem von Screening-Untersuchungen der Schilddrüse, bei denen oft auch Veränderungen sichtbar werden, die harmlos sind“, sagt auch Prof. Dr. Dagmar Führer, Direktorin der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen, im Gespräch mit Medscape. Aus Autopsien wisse man, dass bis zu 35% aller Menschen eine Frühform von Schilddrüsenkrebs in sich tragen, die jedoch für die Patienten im Laufe ihres Lebens keinerlei Bedeutung habe, erklärt Führer. Etwa 70% der über 70-Jährigen haben einen in den allermeisten Fällen harmlosen Schilddrüsenknoten, sagt die Endokrinologin.

„Der ausgeprägten Diagnostik muss man daher entgegenwirken und von Halssonografie, ohne dass Beschwerden oder eine Funktionsstörung der Schilddrüse vorliegen, ablassen.“ Das sei auch im Sinne der Initiative „Klug Entscheiden“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) mit der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Zwar fände in Deutschland kein Screening statt; es werde dennoch „großzügig diagnostiziert“, so ihr Eindruck. Das eigentliche Dilemma bestehe in der mangelhaften Abklärung dieser Veränderungen. „Auf dem Weg von der Erstdiagnose zur Schilddrüsenoperation muss ein großer Filter eingebaut werden“, fordert Führer.

Um unnötige Operationen zu verhindern, sollen Knoten richtig abgeklärt werden. Dazu gehöre bei einem klinisch oder im Ultraschall „auffälligen“ Knoten unbedingt auch die Durchführung einer Feinnadelpunktion. Mit Hilfe dieser in Deutschland viel zu wenig praktizierten Methode können Zellen entnommen und untersucht werden – das sei international Praxis und entspreche den Leitlinien, erklärt die Expertin.

Auf diese Weise könne man Patienten, bei denen ein Karzinom oder ein Karzinom-verdächtiger Befund vorliege, besser herausfiltern und auch das operative Vorgehen anders planen. Zudem könne bei Verdacht auf ein ausgedehntes Karzinom eine zusätzliche Bildgebung erfolgen, die eine bessere Therapiesteuerung schon vor Erst-Operation ermögliche. Umgekehrt könne man vielen Patienten ohne auffälligen Befund oder Beschwerden eine Schilddrüsenoperation und die damit verbundenen Risiken für eine Schädigung der Nebenschilddrüsen oder der Stimmfunktion ersparen.

 
Es gibt keine Beweise für neue Risikofaktoren oder einer gestiegenen Belastung durch bekannte Faktoren, die den Aufwärtstrend erklären könnten. Dr. Salvatore Vaccarella und Kollegen
 

In den USA werden schon heute zusätzliche genetische Untersuchungen aus den Feinnadelpunktaten durchgeführt, um Risikopatienten für Schilddrüsenkrebs noch besser herauszufiltern. „Davon sind wir in Deutschland leider weit entfernt“, sagt Führer.

„Watchful waiting“ statt Thyroidektomie?

In Deutschland werden jährlich rund 80.000 Schilddrüsen-Operationen durchgeführt, Tendenz fallend, bemerkt Luster. Bis vor einigen Jahren waren es noch 120.000. Histologische Befunde zeigen nämlich, dass die meisten der operierten Knoten gutartig sind. Es gebe unterschiedlichste Indikationen für eine Schilddrüsenoperation, unter anderem mechanische Beschwerden bedingt durch einen großen Kropf oder bei einer Überfunktion, erklärt Führer.

 
Der ausgeprägten Diagnostik muss man entgegenwirken und von Halssonografie, ohne dass Beschwerden oder eine Funktionsstörung der Schilddrüse vorliegen, ablassen. Prof. Dr. Dagmar Führer
 

Das Hauptproblem sei aber, dass in Deutschland nach wie vor Schilddrüsenkrebs erst nach anstatt vor der Schilddrüsenoperation diagnostiziert werde. „Das kann so nicht bleiben und daran müssen wir im Sinne der Patienten arbeiten. Wichtig ist deshalb eine Selektion von Risikopatienten und, damit verbunden, eine kritische und idealerweise interdisziplinäre Indikationsstellung zur Operation.“ Gehe es um Schilddrüsenkrebs, solle schon der Ersteingriff von einem endokrinen Chirurgen, der auf derartige Eingriffe spezialisiert sei, vorgenommen werden. Das steigere nicht nur die Chance auf Heilung, sondern mindere auch das Risiko für Folgeeingriffe und Komplikationen, fordert die Endokrinologin. 

In Japan deute sich eine noch radikalere Tendenz zum „watchful waiting“, also dem Abwarten, auch bei auffälligen Knoten, an, erklärt Luster. „Dort wird häufig auch bei Karzinomen nicht operiert, sondern der Tumor und die Entwicklung etwaiger Metastasen beobachtet– eine interessante Entwicklung.“

„Studien in Japan deuteten darauf hin, dass sofortiges chirurgisches Eingreifen und watchful waiting hinsichtlich der Vermeidung von Todesfällen bei Schilddrüsenkrebs gleichwertig abschneiden“, bemerken Vaccarella und seine Kollegen: Bei nur 3,5% der Patienten, bei denen papilläre Mikrokarzinome entdeckt wurden, war in den 75 Studienmonaten ein Fortschreiten der Krankheit zu beobachten; keiner der Patienten starb. Auch in Deutschland tendiere man immer mehr zu weniger aggressiver Behandlung von Schilddrüsentumoren, sagt Luser. „Von interdisziplinären Teams müssen in dieser Richtung Standards entwickelt werden.“ 

 

REFERENZEN:

1. Vaccarella S, et al: NEJM 2016;375:614-7

 

Kommentar

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