München – „Die letzten zehn Jahre waren für das künstliche Pankreas goldene Jahre: Niemand hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Menschen heute bereits in ihrem täglichen Leben ein künstliches Pankreas anwenden würden.“ Mit diesen Worten und dem Hinweis auf einige klinische Studien in ganz Europa eröffnete Prof. Dr. Eric Renard, Endokrinologe/Diabetologe am Universitätsklinikum Montpellier, Frankreich, seine Ausführungen auf dem Kongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in München [1].

Prof. Dr. Lutz Heinemann
In seinem Vortrag sollte er klären, ob Closed-Loop-Systeme zur automatischen Insulinabgabe bei Menschen mit Typ-1-Diabetes im Alltag effizient und sicher sind. Dabei ist es für diese Frage eigentlich noch zu früh: Keines der Systeme ist bislang in Europa oder in den USA von den Regulierungsbehörden zugelassen und kommerziell erhältlich. Erste Studien an Patienten liefern aber ermutigende Ergebnisse.
Das bestätigt im Gespräch mit Medscape auch Prof. Dr. Lutz Heinemann, Teilhaber des Profil Instituts für Stoffwechselforschung GmbH in Neuss: „Closed-Loop-Systeme haben in Studien eine erhöhte Therapiesicherheit gezeigt, vor allem nachts, und damit auch die Lebensqualität gesteigert: Die Patienten oder auch die Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes können endlich wieder ruhig und entspannt schlafen.“
Bisher größte Anwendungsstudie mit Medtronic 670G

Prof. Dr. Richard M. Bergenstal
Beim Kongress stellte Prof. Dr. Richard M. Bergenstal, International Diabetes Center in Minneapolis, USA, die bisher größte und längste Studie zur Anwendung eines künstlichen Pankreas im häuslichen Umfeld vor. 124 Typ-1-Diabetiker im Alter von 14 bis 75 Jahren mit Insulinpumpenerfahrung nahmen daran teil. Für die Studie erhielten sie ein Medtronic 670G-System, das vom Hersteller als „Hybrid-Closed-Loop“ bezeichnet wird, weil der Patient den Mahlzeitenbolus noch selbst ermitteln und auslösen muss. Es funktioniert also halb automatisch, halb manuell.
Nach einer 2-wöchigen Run-in-Phase und einer 6 Tage dauernden überwachten Phase in einem Hotel nahmen die Patienten ihr Gerät mit nach Hause und wendeten es knapp 3 Monate lang unter Alltagsbedingungen an. In dieser Zeit gab es nur einmal wöchentliche Arzttermine und bei Bedarf Telefon- oder Onlinekontakt mit dem Betreuungsteam.
Die Studie war vor allem auf Sicherheit fokussiert und lieferte in dieser Hinsicht beruhigende Daten: Weder schwere Hypoglykämien noch Fälle von Ketoazidose aufgrund schwerer Hyperglykämien wurden beobachtet. Schwere Hyperglykämien ohne Ketoazidose wurden bei 5 Patienten in der Run-in-Phase und bei 6 Patienten während der eigentlichen Studie verzeichnet. Fast alle waren auf Probleme mit dem Infusionsset zurückzuführen.
Der HbA1c-Wert der Patienten änderte sich in dieser „Vorher-Nachher-Studie“ zum Besseren: Er sank von durchschnittlich 7,4% auf 6,9%. Die Blutglukosespiegel der Patienten lagen während der 3-monatigen Hauptstudie im Durchschnitt über 72,2% der Zeit in einem „sicheren, nahe-normalen Bereich“ von 71 bis 180 mg/dl (3,9 bis 10 mmol/l). Betrachtet man nur die Nächte, waren es sogar 75,3% der Zeit.
Bergenstal präsentierte Vorher-Nachher-Kurven der aufgezeichneten Blutzuckerverläufe und betonte: „Man sieht auf einen Blick, dass sich die Profile verengen, dass die Variabilität abnimmt, dass die nächtliche Kontrolle erstaunlich gut ist.“ Das mache es möglich, „morgens mit einem sehr guten Blutzuckerwert aufzuwachen“.
Leichte Gewichtszunahme – das kleinere Übel?
Die mittlere Insulindosis und das mittlere Körpergewicht stiegen über den Studienverlauf leicht an, von 47,5 auf 50,9 E/d bzw. von 76,9 auf 77,6 kg. „Daraus kann man aber noch keinen allgemeingültigen Trend ableiten“, betonte Heinemann auf Nachfrage von Medscape. „Und selbst wenn sich in Langzeitstudien eine gewisse Gewichtszunahme zeigen sollte, müsste wohl jeder Patient für sich entscheiden, ob ihm die verbesserte Blutzuckereinstellung, die größere Sicherheit und gesteigerte Schlafqualität nicht ein oder zwei Kilogramm mehr Gewicht wert sind.“

Prof. Dr. Steven Russell
Die Zulassung für das System ist bei der Food and Drug Administration (FDA) beantragt. Bergenstal ist zuversichtlich: „Seit mehr als 30 Jahren versprechen wir unseren Patienten ein künstliches Pankreas. Diese Daten heute zu präsentieren gibt mir Hoffnung, dass wir dem wieder einen Schritt näher gekommen sind.“
iLet: „Bionisches Pankreas“ noch näher an der Physiologie
Prof. Dr. Steven Russell, Massachusetts General Hospital, Boston, USA, präsentierte mit dem iLet ein Closed-Loop-System, das neben Insulin auch Glukagon enthält. „Sogar das Pankreas selbst, das alle Vorteile der direkten Insulinabgabe in die Pfortader und der unmittelbaren Messung des Glukosespiegels im Blut hat, verwendet ein gegenregulierendes Hormon, Glukagon, um Hypoglykämien zu vermeiden“, so Russell, „dies gilt insbesondere in Situationen mit körperlicher Bewegung und in der späten postprandialen Phase.“ Die Möglichkeit, mit Glukagon gegenzusteuern, gebe hier zusätzliche Sicherheit, erklärte er. „Das wollten wir so gut wie möglich nachahmen.“
Der zweigeteilte Steuerungsalgorithmus ist laut Russell lernfähig: „Er passt sich an den individuellen Patienten an.“ So „wisse“ der Algorithmus für das Glukagon jederzeit, wieviel Insulin gerade im Blut vorhanden ist, und die Blutglukose werde ohnehin ständig gemessen. Angaben der Patienten zum Kohlenhydratgehalt der aktuellen Mahlzeiten seien „möglich, aber nicht notwendig“.
Bionisches Pankreas in Studie bewährt
Auch das bionische Pankreas wurde kürzlich in einer Studie untersucht, der ersten Studie mit einem 2-Hormon-Closed-Loop-System bei relativ unbeaufsichtigten Patienten. Die Teilnehmer waren handverlesen: Sie waren allesamt erwachsen, Angestellte oder Studenten am University of Massachusetts Medical Center in Boston und zugleich Typ-1-Diabetiker. Sie alle verwendeten ohnehin bereits eine Insulinpumpe, einige nutzten außerdem ein kontinuierliches GlukoseMonitoring (CGM).
Voraussetzung für die Studienteilnahme war außerdem, dass sie in einem 30-Minuten-Radius – gemeint ist die Fahrzeit mit dem Auto – um die Bostoner Kliniken wohnten und sich über die gesamte Zeit in einem 60-Minuten-Radius aufhielten, nur für den Fall, dass sie rasch technische Hilfe brauchten. Ein Fall, der nicht eintrat; deshalb wurden diese Vorgaben nun für künftige Studien gelockert.
11 Tage lang trugen die Patienten in der Studie ein bionisches Pankreas und weitere 11 Tage lang nur ihre üblichen Insulinpumpen und ggf. ihre eigenen CGMs. In jedem Falle wurden ihre Glukosespiegel von einem zusätzlichen, verblindeten CGM gemessen. Die Studie hatte ein randomisiertes Cross-Over-Design. Die Reihenfolge der beiden Studienphasen war also für jeden Patienten nur vom Zufall abhängig. In beiden Studienphasen wurden die Patienten fernüberwacht, um fehlende Konnektivität oder länger als 15 Minuten währende Hypoglykämien festzustellen und sie in diesem Falle zu informieren.
Die Auswertung der Studie ergab deutliche Vorteile für die Zeit mit dem bionischen Pankreas: So lag der mittlere Blutzuckerwert der Patienten in der Studienphase mit dem Gerät nur bei 149 mg/dl (8,3 mmol/l). In der Kontrollphase mit Standardtherapie waren es 162 mg/dl (9 mmol/l).
Zudem waren die Blutzuckerspiegel in der experimentellen Phase der Studie deutlich homogener, und die Patienten verbrachten weniger Zeit in Hyper- oder Hypoglykämiezuständen. Dazu passt, dass es in der Phase mit dem Device keine einzige schwere Hypoglykämie gab. In der Kontrollphase mit der Standardtherapie trat bei einem Patienten eine schwere Unterzuckerung auf. Die Zeit im „sicheren, nahe-normalen Bereich“ von 70 bis 180 mg/dl (3,9 bis 10 mmol/l) betrug in der experimentellen Phase 78% und sonst nur 62% des gesamten Tages; dies galt ebenso für die Nacht.
Die mittlere Insulindosis war mit dem bihormonalen Closed-Loop-System leicht, aber signifikant erhöht; es wurden pro Tag und pro kg Körpergewicht 0,66 statt nur 0,62 Einheiten appliziert. Das Gewicht der Studienteilnehmer blieb aber unverändert.
Die Patienten waren mit der Anwendung des bionischen Pankreas jedenfalls zufrieden: Sie bewerteten das Blutzuckermanagement mit dem Gerät als signifikant besser, verglichen mit ihrer bisherigen Therapie. „Die automatisierte bihormonale Glukosekontrolle ist auch im häuslichen Umfeld möglich“, fasste Russell zusammen. „Für eine gute Glukosekontrolle ist es nicht nötig, Kohlenhydrate zu zählen.“
„Die Kombination von Insulin und Glukagon in einem System gibt den Patienten zusätzliche Sicherheit. Sie haben dann gewissermaßen nicht nur ein Gaspedal, sondern auch gleich die Bremse dazu“, erklärt Heinemann. „Allerdings gibt es bislang noch keine stabile Formulierung von Glukagon; die Patienten müssen die Kartuschen täglich neu füllen“, schränkte er ein. „Zudem ist Glukagon in dieser Indikation noch nicht zugelassen und bis es soweit ist, kann es auch noch einige Jahre dauern.“
REFERENZEN:
1. European Association for the Study of Diabetes (EASD) Congress, 12. bis 16. September 2016, München
Künstliches Pankreas mit Smartphone-App: Closed-Loop-System beweist sich im Alltagstest
Typ-1-Diabetes: „Bionisches Pankreas“ erstmals im Alltag über mehrere Tage erfolgreich
Typ-1-Diabetes: Dem künstlichen Pankreas einen entscheidenden Schritt näher?
Ein Hormon oder zwei? Künstliches Pankreas kommt wahrscheinlich ohne Glukagon aus
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Künstliches Pankreas bei Typ-1-Diabetes: Hoffnungsvolle Alltagstests mit Closed-Loop-Systemen mit und ohne Glukagon - Medscape - 28. Sep 2016.
Kommentar